Schon viele Bearbeitungen hat die „Beggars’ Opera“ von John Gay und Christopher Pepusch erlebt. Weills und Brechts „Dreigroschenoper“, selbst eine dieser Bearbeitungen, produziert nun ihrerseits Nachfahren. 2010 hatte in Dessau beim Kurt Weill Fest Moritz Eggerts „Bordellballade“ Premiere, jetzt legen Anhaltisches Theater und Weill Fest erfolgreich nach mit der Uraufführung von „Oskar und die Groschenbande“, einer Kinderoper von Christoph Reuter und August Buchner.
Oskar Hobusch, ein pfiffiger, etwas altkluger Schüler von etwa 12 Jahren, wird von seinem Vater am Dessauer Bahnhof in den Zug nach Berlin gesetzt. Dort soll er Anschluss an seine Schulklasse finden, deren Abfahrt er wegen Krankheit verpasst hat. Als Reiselektüre gibt ihm sein Vater ein Buch mit. Ob es nun am Sog der erzählten Geschichte oder an den Nachwehen des Fiebers liegt – Oskar gerät in die Handlung des Buches selbst hinein. Als er am Bahnhof Zoo aussteigt, um die Diebe seines Rucksacks zu verfolgen, findet er sich zu seinem Erstaunen in der Vergangenheit wieder: „1928 – kein Wunder, dass ich kein Netz habe!“ Und da in seinem Buch anstelle einer Fortsetzung nur noch blanke Seiten zu sehen sind, muss er das Abenteuer dieser Zeitreise nun selbst bestehen.
Verübt wurde der Rucksack-Diebstahl von einer Kinderbande, die ihre Beute einem gewissen Pit Schumm abliefern muss, der wiederum mit einem Polizeikommissar namens Braun kungelt. Unschwer sind hier die Vorbilder aus „Beggar’s Opera“ und „Dreigroschenoper“ auszumachen, allerdings gemischt mit Motiven aus Erich Kästners Kinderbuch „Emil und die Detektive“. So gelingt es am Ende auch den Kindern, Schumm unschädlich zu machen, und Oskar kann mit seinem Rucksack die Rückreise in die Gegenwart antreten.
Ähnlich wie in dem deutschsprachigen Musical-Klassiker „Linie 1“ ist die eigentliche Handlung eher einfach gestrickt; der Reiz des Stückes liegt in den einzelnen Stationen und dem entfalteten Berlin-Panorama. Nur ist es hier das Berlin vom September 1928, und wie zufällig ist die gerade am Schiffbauerdamm-Theater uraufgeführte „Dreigroschenoper“ in aller Munde. Oskar trifft sogar die drei Star-Darsteller Erich Ponto, Kurt Gerron und Harald Paulsen beim Plausch in der Garderobe und bekommt ein Autogramm für seinen Vater, der selbst Schauspieler ist.
„Kurt war darunter und Erich dabei, und Harald hat Macheath gegeben“ singen die Drei im „Garderobensong“, und spätestens wenn Christoph Reuters Musik den „Kanonensong“ anklingen lässt, wird klar, dass Text und Musik voller witziger Verweise auf die „Dreigroschenoper“ stecken. August Buchners Texte bringen es dabei fertig, Brecht unter der Hand zu parodieren und trotzdem ganz eigene Geschichten zu erzählen – wie die von der Kudamm-Polly, die sich anders als die Seeräuber-Jenny kein Piratenschiff, sondern eine Schauspielkarriere erträumt. Christoph Reuters schwungvoll konzipierte Musik könnte – zumal in der ersten Hälfte – noch ein wenig mehr Farbe vertragen. Doch sie übersetzt ansprechend und wirkungsvoll die Energie der Texte in den richtigen Tonfall und Gestus. Nicht Andrew Lloyd Webbers Schlagerfabrik steht hier Pate, sondern der feinere Pinsel eines Steven Sondheim.
Auf der Bühne stehen, singen, tanzen und wirbeln 18 namentlich genannte Kinder, von denen Conrad Felix Papesch (Oskar Hobusch) und Hannah Fricke (Polly Braun) besonders souverän agieren, dazu Kinderchor, Kinderballett und vier erwachsene Darsteller des Anhaltischen Theaters. Im Orchestergraben sitzen Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie zusammen mit Kinder und Jugendlichen der Dessauer Musikschule. Die musikalische Leitung ist bei Stefan Neubert, Repetitor am Anhaltischen Theater an sicheren Händen. Zu einem imponierenden Gesamteindruck fügen sich Silke Wallsteins Regie, Gabriella Gilardis Choreografie, Nicole Bergmanns Bühne, Barbara Janottes Videosequenzen und Katja Schröpfers Kostüme. Einziges Manko dieser Premiere ist die schlechte Textverständlichkeit der Dialoge, die durch übersteuerte Mikrophone noch verschärft wird.
Insgesamt entsteht in „Oskar und die Groschenbande“ eine vitale Liebeserklärung: An Brecht und Weill, an die „Dreigroschenoper“, an das Theater überhaupt und an seine in den vielen lebendigen Kindern auf der Bühne verkörperte Zukunft – und nicht zuletzt an die Stadt Dessau selbst. Wenn Oskar Hobusch seinen Berliner Freunden von 1928 das Lied „Meine Stadt“ singt, ist da auch von einer legendären Institution die Rede: „Das Bauhaus ist ein Bürgerschreck aus Dreieck, Kreis, Quadrat, ein rotgelbblauer Schönheitsfleck, ein Zukunftsautomat.“ Das wirkt wie ein Weckruf an die Stadt an Mulde und Elbe, die zunehmend in Lethargie und musealer Nostalgie zu versinken scheint. Aber das gibt es nicht nur in Dessau-Roßlau, und überhaupt ist dieser „Oskar“ zu gut, um nach dem Weill-Fest in der Versenkung zu verschwinden.