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Instrument des Jahres: Die Stimme

Instrument des Jahres: Die Stimme

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Das Musikinstrument des Jahres 2025: die Stimme – Teil 2: „Ich kann nicht singen!“

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Singen und Sprechen sind menschliche Grundfähigkeit. Jeder Mensch kann sprechen und singen, seiner Persönlichkeit klanglich Ausdruck verleihen. Wer den Mut hat, seine Stimme erschallen zu lassen, kann Freude erzeugen in sich und anderen, kann die Welt gestalten. Trotzdem glauben viele Menschen, nicht singen zu können – oft wurde es ihnen in ihrer Kindheit durch Vertrauenspersonen verleidet. Trotzdem: Nur Mut! Jeder Mensch kann singen!

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Der Bürger hat gesprochen! Gigantische 82,5 Prozent der Bundesbürger haben am 23. Februar 2025 bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben – immerhin gut sechs Prozent mehr als bei der letzten Wahl im Jahr 2021. Ähnlich hohe und höhere Wahlbeteiligungen gab es zuletzt 1987 (84,3 Prozent) und in den Legislaturperioden zuvor – der bisherige Spitzenwert von 91,1 Prozent wurde 1972 erreicht. Die politische Lage und die gesellschaftlichen Belange haben offenbar mehr Menschen angesprochen und bewegt als in den Vorjahren.

Was so positiv klingt, ist aber eigentlich eine (zumindest sprachliche) Katastrophe. Da geben Menschen ihre Stimme ab – sind also folgerichtig danach stimm- und sprachlos, stumm. Schöner wäre eine Formulierung, die herausstellt, dass Menschen ihre Meinung und ihren Willen kundgetan haben. Was auf der einen Seite ein wenig nach „Stimmvieh“ klingt, wäre dann plötzlich auch sprachlich viel klarer eine laute Äußerung einer persönlichen Einstellung, ein selbstbewusstes Lautwerden – das explizit braucht nämlich eine Demokratie.

Wer seine Stimme abgibt, hat – so könnte man diesen Ausdruck verstehen – fortan keine Stimme mehr bis er dereinst wieder nach ihr gefragt wird. Wer aber keine Stimme hat, der kann auch nicht sprechen oder singen. Wer seine Stimme abgibt, ist somit eines der wichtigsten menschlichen Entäußerungsmittel beraubt. Dabei ist Wählen doch letztlich ein Mittel, sich auszudrücken, Dinge zu formulieren und auszusprechen, laut zu werden. Dieses sind Fähigkeiten, die im menschlichen Leben nicht selbstverständlich funktionieren, sondern geübt werden müssen, gelegentlich gehört Mut dazu. Manche Parteien begründen gerade mit diesem Übungseffekt die Herabsetzung des Wahlalters.

Die Landesmusikräte haben bei der Auswahl und Präsentation der Stimme als Instrument des Jahres 2025 natürlich auch an die politische Stimme gedacht. Wir wollen uns jetzt aber der Stimme als musikalischem Phänomen zuwenden und gleichzeitig einem der am häufigsten ausgesprochenen Sätze, wenn es um die persönliche Beziehung zur eigenen Stimme geht: „Ich kann nicht singen!“

Jeder Mensch kann singen

Cornelius Trantow ist Professor für Chorleitung in Hamburg. Für ihn ist klar: „Jeder Mensch, der sprechen kann, kann auch singen.“ Trantow würde jedem, der sagt, dass er nicht singen könne, zunächst einmal Mut machen und ihn zum Ausprobieren ermutigen. Dabei wäre ihm das Wohlbefinden des Sängers wichtig, der sich einen Ort suchen soll, wo er sich wohlfühlt. Ein Publikum ist in jedem Fall nicht vonnöten. „Spaß“ muss es in erster Linie aus seiner Sicht machen. Hier ist wohl das Singen gut in der Dusche zu verorten. Perfektion ist zunächst einmal nicht gefragt, solange es einen glücklich macht – persönlich empfundenes Glück stärkt die Gesundheit und das Immunsystem.

Trantow schränkt aber auch ein. Singen kann wohl jeder – aber es gibt Qualitätsunterschiede! Für das Singen am Lagerfeuer oder in der Kneipe werden keine besonderen gesanglichen Fähigkeiten benötigt, weshalb er rät, sich Gleichgesinnte zum gemeinsamen Singen zu suchen. Will man aber mit seinem Gesang eine musikalisch-künstlerische Aussage formulieren, dann bedarf es einer guten und sicheren Verbindung zwischen Ohr und Stimme, zwischen Hören und Singen. Diese kann man üben – muss es aber auch ausgiebig tun. Es ist also letztlich wie bei jeder spezialisierten und möglicherweise sogar herausragenden Fähigkeit, gleich in welchem Fachgebiet. – Trantow erzählt, dass unter Instrumentalisten gelegentlich gegenüber den Sängern ein „Laiennimbus“ angenommen wird – denn singen kann ja jeder. Für die Kunstform „Singen“ bedarf es aber genauso viel Übung wie bei jedem anderen Instrumentalisten auch!

War es bisher üblich, dass jedes Bundesland, das an der Aktion „Instrument des Jahres“ teilgenommen hat, einen Musiker als Schirmherren hatte, so ist in diesem Jahr erstmals ein Nicht-Musiker, ein Arzt, für den Freistaat Sachsen als Schirmherr unterwegs. Professor Michael Fuchs, der Leiter des Zentrums Musikmedizin an der Universität Leipzig, ist heute Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Facharzt für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen (Phoniatrie und Pädaudiologie), hat aber als ehemaliger Thomaner eine profunde musikalische und speziell gesangliche Ausbildung.

Singen ist ein Nachahmungsprozess

Fuchs bestätigt Trantows Aussagen: „Alle Menschen haben die organischen und funktionellen Voraussetzungen, um singen zu können. Nur sehr selten gibt es angeborene Fehlbildungen.“ Er betont, dass es sich beim Singen um eine Art Nachahmungstätigkeit handelt. Singen kann man zunächst nur das, was man schon einmal gehört hat und mittels einer gewaltigen kognitiven Leistung des Hirns dann über die Stimme reproduziert. Je intensiver Eltern ihren Babys und Kindern etwas vorsingen und diese unbewusst diese Melodien nachahmen, desto mehr bilden sich entsprechende Muster im Gehirn aus. Wer als Kind schon viel singt, so Fuchs, „bewahrt sich seine Lust und Fähigkeit am Singen ein Leben lang.“

Auch für Fuchs sind die Aspekte „Mut machen“ und „üben“ von großer Bedeutung – beides lohnt sich! Auch bei Erwachsenen, die in ihren Prägungsphasen vielleicht wenig gesungen und geübt haben, kann man – zugegeben mit einem hohen Aufwand – im Einzeltraining noch viel nachholen. Die Überzeugung, gerade bei Erwachsenen, nicht singen zu können, rührt vielfach auf Ereignissen in der Schulzeit. Im Musikunterricht oder bei der Aufnahme in den Schulchor – und mal ehrlich: Wer kann sich an eine solche Situation nicht erinnern? – sagte der Musiklehrer schnell mal „Du kannst nicht singen“, weil man den Vorstellungen dieser Lehrkraft nicht entsprach. Fuchs sagt dazu: „Für mich persönlich grenzt diese Äußerung an Körperverletzung. Es zerstört in dem Kind jegliche Bemühungen sich weiter mit dem Singen zu beschäftigen.“ Letztlich wird das Kind auf diese Weise seiner geistig-emotionalen Entäußerung beraubt. Für Fuchs ist das eine Verletzung der Persönlichkeit – immerhin kommt das Wort „Persönlichkeit“ von „personare“, was so viel wie „durchklingen“, „durchtönen“ oder „mit Klang erfüllen“ bedeutet.

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Der Gesang der Männer von Huutajat ist sehr rhythmisch und lebt von Akzenten und Betonungen. Oft nutzen Sie auch Megaphonem Banner oder Ofenrohre für ihre Darbietungen. Foto: © Vesa Ranta

Der Gesang der Männer von Huutajat ist sehr rhythmisch und lebt von Akzenten und Betonungen. Oft nutzen Sie auch Megaphonem Banner oder Ofenrohre für ihre Darbietungen. Foto: © Vesa Ranta

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Mieskuoro Huutajat

In Finnland gibt es seit 1987 einen Chor, der in einem etwas anderen Bezugssystem denkt und funktioniert. Die oben beschriebene Gewöhnung eines Kindes an das Singen hat etwas mit kulturellen Gewohnheiten zu tun. Nur wer so singt wie seine (kulturelle) Umgebung, singt „schön“ oder „richtig“. Petri Sirviö, der Leiter des finnischen Chores erläutert: „Wir haben keine ästhetischen Ambitionen für einen schönen Klang der Stimme, so wie es der Fall ist bei den meisten Kunstformen des Gesangs.“ Sirviö ist Leiter des finnischen Schreichores „Mieskuoro Huutajat“ aus der Stadt Oulu im finnischen Norden, da wo der Fluß Oulujoki in den Bottnischen Meerbusen mündet.

„Die Chormitglieder sind Amateure“, berichtet Sirviö, „wobei einige von ihnen ausgebildete Musiker sind. Beim Vorsingen ist es grundsätzlich so, dass es jeder probieren kann. Es ist erfreulich zu sehen, wie aus Leuten, die sich vorher keinerlei musikalischer Fähigkeiten bewusst waren, ausgezeichnete Schreier mit hervorragender rhythmischer Präzision und starkem Stimmausdruck werden. – Wenn wir unsere Schreistimme ausprägen, ist unser Ausgangspunkt, die Stimme so laut wie natürlich möglich zu machen, ein persönliches Stimmregister und eine Art der Stimmproduktion zu finden, in der es am leichtesten ist, sich möglichst laut auszudrücken.“

Sirviö komponiert alle Stücke, die der Chor einstudiert und aufführt, selbst. Er erläutert seine Arbeit: „Wenn ich komponiere, kommen mir manchmal gewisse Rhythmuspatterns oder Melodien in den Sinn, aber ich nehme immer einen Text als Ausgangspunkt. Als Text zum Schreien eignet sich praktisch alles: von Gedichten bis zu Auszügen aus Gesetzes- oder Vertragstexten, von Kinderreimen bis zu Klageliedern. Es muss nur etwas darin geben, was zum Schreien ist.“

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