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Nicola Porporas „Il Polifemo“ in Schwetzingen: Haris Andrianos in der Titelrolle. Foto: Florian Merdes
Nicola Porporas „Il Polifemo“ in Schwetzingen: Haris Andrianos in der Titelrolle. Foto: Florian Merdes
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Das nette Pop-Monster von Schwetzingen: Nicola Porporas Oper „Il Polifemo“ im Rokokotheater

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Man nannte ihn den „Vielgerühmten“: Der Name Polyphem spielt darauf an, dass dieser Riese im Ruf stand, stärker zu sein als die kräftigsten der rauflustigen olympischen Götter. Der vermutlich Einäugige, Sohn des Poseidon und der Meeresnymphe Thoosa, war die Führungspersönlichkeit in einer Rotte von Zyklopen, einem offensichtlich uralten Schrecken der mediterranen Menschheit.

Residiert habe er an den schroff aus dem Thyrrenischen Meer aufsteigenden Gestaden, am Hang des Ätna oder auf einer der Sizilien vorgelagerten Inseln (er ist unter der latinisierten Bezeichnung Polifemo also Vorfahr der heutigen Italiener). Als sie ungebeten des Wegs kamen, habe er ein paar Gefährten des Odysseus verzehrt. Im Gegenzug wurde er überlistet und betäubt, sein Auge mit einem glühenden Holzscheit ausgestochen und ausgebrannt.

Mit den Hinweisen auf diese schmerzliche Episode umriss der erste Biograph Homer, dass und wie die Macht auf Erden von „Monstern“ wie dem alten Kameraden Polyphem auf die jüngeren Olympier überging. Diese Parvenus waren Homer zufolge die eigentlichen Kriegstreiber im Vorfeld des zehnjährigen Kriegs zwischen den achäischen Stämmen und Troja, der Vormacht Kleinasiens. Die ausschweifende Darstellung der welt- und kulturhistorisch nachhaltigen Auseinandersetzung zwischen den „westlich“ konnotierten Griechen und dem Vorposten des Orients in der „Ilias“ und der  „Odyssee“ gehörte einst in ganz Europa zum Bildungskanon. Auch in England.

Polyphems Kunstleben

Aus dem Jahr 1829 stammt ein berühmtes Bild von William Turner: „Odysseus verspottet Polyphem“. Turner zeigte einen imposanten Einsatz von Farbe, deutete mit krassem Hell-Dunkel-Kontrast wilde Natur an, in der die Lebewesen sehr klein erscheinen. Er rückte das Licht in den Mittelpunkt – bei einem Sujet, das nicht zuletzt den Verlust des Augenlichts zum Thema hat: Polyphem war den Museumsbesuchern in London einst ebenso ein Begriff wie den Operngängern ein Jahrhundert zuvor.

Paolo Antonio Rolli setzte ihnen 1735 eine weichgespülte Version der harten Geschichte vor. Der Librettist reicherte seine reichlich rhapsodische Handlung um Episoden aus benachbarten Mythen an und erweiterte sie um ländliche Liebeswirren. Bei denen verhakeln sich zwei paarungswillige Männer – Polifemo und Aci – sowie der auf dem Nachhauseweg aus dem Trojanischen Krieg aufgehaltene König von Ithaka mit zwei in Bezug auf die Liebeserwartungen unterschiedlich strukturierten Frauen. Galatea ziert sich zunächst noch und zaudert, weil sie kraft Abstammung doch etwas Besseres ist. Im Kontrast zu ihr erweist sich die nicht minder göttliche Calipso als sichtlich und hörbar liebestoll.

Der Kapellmeister und Komponist Nicola Antonio Porpora (1686–1768) aus Neapel, der neben dem Komponisten Johann Adolf Hasse, dem Librettisten Pietro Metastasio auch die Sänger Caffarelli, Senesio und insbesondere den bis heute berühmten Sopranisten Farinelli ausbildete, kam 1733 aus Venedig in die britische Hauptstadt und übernahm die Leitung der Opera of the Nobility – das Haus, das mit Georg Friedrich Händels Haymarket Theatre konkurrierte und dieses in kurzer Zeit übertrumpfte. Er war ein Mann des Show Business und in stilistischen Fragen des Tonsatzes sehr viel weitergehend als sein nachmals so berühmter Konkurrent der Zukunft zugetan: Erfahrung und Feingefühl auf dem Gebiet der menschlichen Stimme machten ihn zum Spezialisten der Aria di bravura, die mit Virtuosität nicht geizte, aber auf einfachen, eingängigen und theaterwirksamen Melodien und Harmonisierungen basierte.

Überhaupt kündigt sich in Porporas effektsicherer Musik die neue Einfachheit und Empfindsamkeit der frühklassizistischen Ära hörbar an. Sie kam und kommt den Genussbedürfnissen nach besten Kräften entgegen. Auch wenn die handverlesenen Heidelberger Philharmoniker jetzt unter Leitung von Wolfgang Katschner nur eine bedingt historisch informierte Musizierpraxis aus dem kleinen Graben des idyllisch eingeschneiten Schwetzinger Schlosstheaters aufsteigen lassen – das Engagement für den Sound einer revitalisierten Theatergeschichte ist unüberhörbar.

Ausgeblendete Handlung, leere Bilder

Als gäbe es heute keine Menschenfresser mehr und keine Kriegsverbrecher! Die vor 277 Jahren in London wohl höchst erfolgreiche Oper „Polifemo“ kokettiert mit Grausamkeiten aus der Frühgeschichte der Menschheit, wusste das Publikum in der Hauptsache jedoch mit den weichgespülten Liebesgeschichten zu umwerben. Freilich bleibt, bei aller ästhetizistischen Distanzierung, die Grundierung durch eine Ästhetik der Grausamkeit. Die Zubereitungsformen von Menschenfleisch haben sich im Laufe der Geschichte modifiziert (Silvio Berlusconi führt es sich in anderer Rezeptur zu Gemüte als sein Vorfahr Polyphem oder die Genießer in der Ära des Marquis de Sade). Auch die Kampftechniken haben sich seit den Jahren des Trojanischen Kriegs geändert. Heute schlägt die Drohne zu, nicht mehr der unbehauene Gesteinsbrocken.

Polyphem – jetzt in der modifizierten Gestalt des Polifemo und in der Ausstaffierung als Rock-Sänger vorzüglich von Haris Andrianos bestritten – war weder Vegetarier noch Pazifist. Sein Gegenspieler Odysseus, einst Kopf der griechischen Invasionstruppen in Kleinasien, wäre angesichts der von ihm zu verantwortenden Verbrechen heute am besten im Gewahrsam des Internationalen Gerichtshofs Den Haag aufgehoben. Von den Schrecken der Geschichte aber, vom mörderischen Steinschlag und dem Ausstechen des Auges, von dem auf offener Bühne gesungen wird, sieht man in Schwetzingen nichts. Die junge Klara Carus, erprobt bislang als Regieassistentin an verschiedenen Häusern, musste in der Ausstattung, die für die erkrankte Regisseurin Karoline Gruber angefertigt wurde, das Elend der Beschönigung auf die Bühne bringen.

Man sieht zunächst auf leerer Fläche ein Objekt, das an eine gefrorene Gans erinnert und wohl einen schweren Stein darstellen soll. Dann Schäfchenwolken (aus ihnen poltert später so etwas wie Marzipan-Konfekt). Im Hintergrund zeigt sich gelegentlich einer jener kahlen Bäume, wie sie im wirklichen Leben nur in Schaufenster-Dekorationen vorkommen. Odysseus – der junge, sich markant auch als Darsteller profilierende Countertenor Jakob Huppmann – erscheint in Lackschuhen, mit einer historischen Land- oder Seekarte des Mittelmeerraums, bewaffnet mit einem Pappschwert und beschwert mit einem Rucksack, als wäre er die Wanderbaustelle auf der A5 (das war wohl nicht parodistisch gemeint, sondern folgt dem stark stilisierten Design-Konzept von Sebastian Hannak). Mit der körperlichen Liebe, von der das Stück so prall kündet, wird – wenn überhaupt – verschämt hinter einer Trennwand umgegangen. Am Ende gibt es Geschenkpakete und es regnet goldene Konfetti. Die göttlichen Sängerinnen, die sensibel auftretende Rinnat Moriah und die mit robustem Mandat singende Tijana Grujic, wurden in teure Abendrobe gesteckt.

Das, was ein Plädoyer für Porpora und die überlegene britische Unterhaltungskultur hätte werden können, geriet weder zu einem in modernem Sinn unterhaltsamen Abend noch zu einer historischen Rekonstruktion. Es ergab sich eine tugendhaft modernisierte Idylle, die nicht zuletzt von Versatzstücken der heutigen Werbung zehrt. Gekrönt wird der Abend vom Solo Acis „Alto Giove“. Der Counter Terry Wey bringt mit der Leichtigkeit, Weichheit und Geschmeidigkeit seiner Stimme den größeren Teil des Publikums zum Schmelzen.

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