Vor etwa dreißig Jahren tauchten junge Leute aus vorwiegend unterprivilegierten Gesellschaftsschichten auf, die die Parole „No Future“ aggressiv den sich im Erreichten einrichtenden 68ern entgegenbrüllten. Es war die Szene des Punkrock, die mit einfachsten aber durchdringenden Mitteln ihre Unlust am Gang der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Man hatte es satt, immer wieder mit Entwürfen zum moderat Besseren abgespeist zu werden, während man tagtäglich das Gegenteil unters Kinn gerieben bekam. Alles kollabierte im selbsterzeugten Müll und Dreck, mit dem eigenen Aussehen wollte man das Unvermeidliche vorwegnehmen: danach gab es keine Zukunft mehr.
So negativ, ja alles andere missachtend die Punks ihre Lage sahen, so sehr lebte in ihnen noch ein Stachel des Widerstands – und sei es nur noch der des sinnlosen, aber als lustvoll erlebten Zerstörens. Blicken wir auf heute, so scheint auch diese Lust den Bach hinunter gegangen. Die Rockmusik und parallel dazu auch die so genannte Ernste Musik oder Neue Musik lieben es, appetitliche Häppchen zu servieren und immer wieder ist auch ein aufgewärmtes darunter, das sehnsüchtig den 60ern und 70ern (in der E-Musik sind die Distanzen eher noch größer) nachschmachtet. Fragt man eine Reihe von heutigen jungen Komponisten nach dem Begriff der Utopie und dessen Bedeutung fürs eigene Schaffen, so erntet man in der Regel nur ein erstauntes Kopfschütteln. Die Gegenwart sei das einzig Maßgebliche, sie auf möglichst erträgliche Weise zu füllen (Zeit totschlagen wäre ein anderer Ausdruck) sollte die Aufgabe des Künstlers sein. Unsere zeitliche Wahrnehmungsdimension, die ins Vergangene zurückblickt, um im Gegenwärtigen Ausblicke auf die Zukunft zu geben, ist scheinbar geschrumpft. Die Gegenwart hat sich ihrer Hüllen des Vorher und Nachher entkleidet und präsentiert sich nackt. Und von vielen Komponisten und Musikern wird diese Beschränkung auf das zu gestaltende Jetzt sogar als Durchbruch gefeiert. Musik sei eben per se eine genuine Gegenwartskunst.
Es ist nicht so, dass die Ausschaltung der historischen Perspektiven der musikalischen Betätigung völlig fremd ist. Aber die abendländische Musik hat über Jahrhunderte den Begriff der Utopie, also des Entwerfens von Modellen für die Zukunft, zu einem zentralen Aspekt des Schaffens gemacht. Botschaften für das Kommende, das beobachtet man spätestens, hier aber ganz deutlich, im Spätwerk von Bach und seither ist die visionäre Gabe des musikalischen Kunstwerks integraler Bestandteil. Vielleicht wurde mit ihr etwas von den ursprünglichen Wurzeln musikalischer Betätigung, nämlich ihre magische Seite, auf anderer (höherer?) Ebene wiederbelebt. Bruckner hat einmal an den Dirigenten Weingartner zur Achten geschrieben: „… und gilt nur für spätere Zeiten.“
In der Gegenwart solle man fast nach Belieben kürzen, aber die Musik vertraute auf eine rezeptive Emanzipation, die dann das Erfassen des Gesamten erlaube. Viele Komponisten nach dem zweiten Weltkrieg schrieben diese schöpferischen Maximen fort, nicht zuletzt angeregt durch Philosophen wie Theodor W. Adorno oder Ernst Bloch. Letzterer hat in „Geist der Utopie“ oder „Prinzip Hoffnung“ das Moment des Vorausschauens, das sich in der Hoffnung positiv birgt, als grundsätzliche Triebkraft menschlichen Tuns gesehen und zugleich gefordert. Die Kunst, die Musik waren ihm hierfür entscheidende Transmissionsriemen.
Heute wird man von Jüngeren oft belächelt, wenn man auf Namen wie Adorno, Bloch oder auch Habermas und Marcuse verweist. Diese Namen gelten einfach als out, ihre kritische Haltung gegenüber dem medialen Kulturbetrieb erscheint als nicht zeitgemäß, als Hirngespinste, die den realen Gang der Dinge nicht sehen wollen. Viel lieber richtet man sich in ihm möglichst widerstandsfrei und behaglich ein. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass heute komponiert wird, um einfach seinen Job zu tun: gewiss so gut wie es dem Komponisten mit seinen angelernten Mitteln möglich ist, aber ohne den inneren Antrieb eines so und nicht anders Müssens. Und hat man auf der Basis einiger Werke dann eine Professur erlangt, dann kann man das lästige Schreiben von Noten auch reduzieren. Komponieren wird auf diese Weise zur Lehrlingsarbeit degradiert, es ist vorübergehende Arbeit, ehe man selbst die schlechte Tradition weitergibt und das System prolongiert. Dies alles ist natürlich etwas überspitzt und trifft keineswegs auf jeden jüngeren Komponisten zu. Aber es ist dennoch ein ganz signifikantes Symptom, das nicht aus den Augen verloren werden darf.
Wer den Begriff der Utopie für sein Schaffen tilgt, wer nur im Gegenwärtigen ohne visionäre Ausblicke herumplantscht, der wird kaum den Mut aufbringen, künstlerisch das Außerordentliche zu wagen. Nur da aber, im radikal Anderen, wird Geschichte fortgeschrieben, wird das Feuer weitergereicht, das wir als Auftrag von den früheren Generationen erhalten haben. Heute droht diese Flamme im sauerstoffarmen Mief des bloß Gegenwärtigen zu ersticken.