Vor vierzig Jahren galt ein Pianist wie Maurizio Pollini, der in ein und demselben Konzert Beethoven und Stockhausen spielte, noch als kühner Einzelgänger. Eine Generation später sieht das schon ganz anders aus. Für den 1957 in Lyon geborenen Pierre-Laurent Aimard, den diesjährigen Ernst von Siemens-Musikpreisträger, gibt es keinen Gegensatz mehr zwischen Klassikern und Zeitgenossen, beides spielt er mit der gleichen Hingabe. Sein Repertoire reicht von Bach bis Boulez, von Mozart bis Marco Stroppa, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der Gegenwartsmusik liegt.
In Aimards Spiel verbindet sich ein an der Tradition geschultes Form- und Klangbewusstsein mit dem analytisch geschärften Blick auf die modernen Partituren. Das Alte profitiert vom Neuen und umgekehrt. Darin zeigt sich die Sicht des 21. Jahrhunderts auf die Vergangenheit. Die Kulturbrüche des 20. Jahrhunderts erscheinen aus dieser Perspektive zwar noch immer als tiefe Einschnitte, doch sie haben den Charakter des Endgültigen verloren; ihre Schockwirkungen treten hinter dem Bewusstsein einer die Jahrhunderte überspannenden Einheit der Musikkultur zurück.
Die Liebe zur Moderne wurde in Aimard früh geweckt. Schon als Schüler fasziniert ihn die Musik von Pierre Boulez. Mit zwölf beginnt er am Konservatorium seiner Heimatstadt ein Klavierstudium. Dann unterrichtet ihn am Pariser Conservatoire Yvonne Loriod, die Ehefrau von Olivier Messiaen. Durch sie lernt er den neunundvierzig Jahre älteren Komponisten kennen. Es entwickelt sich eine enge persönliche Beziehung, und Messiaens Klavierwerk gehört von nun an zu seinem Kernrepertoire. Mit neunzehn wird er von Boulez als Solopianist in das gerade gegründete Ensemble Intercontemporain berufen. Boulez ist die zweite zentrale Figur in Aimards künstlerischem Werdegang, und der Posten erweist sich als optimales Sprungbrett für eine internationale Solistenkarriere.
Aimard geht sie auf ganz persönliche Weise an. Er sucht den Kontakt zu den Komponisten und studiert mit ihnen ihre Werke ein, viele davon als Uraufführungen. Karlheinz Stockhausen, Harrison Birtwistle, György Kurtág, Elliott Carter, George Benjamin und viele andere schreiben Stücke für ihn, von Ligeti spielt er das Gesamtwerk für Klavier auf Tonträger ein und bringt rund die Hälfte seiner Etüden zur Uraufführung. Die enge Zusammenarbeit mit den Komponisten wird für ihn zu einer Lebensaufgabe. Das Beste, was einem Interpreten passieren könne, sagt er in einem 2008 entstandenen Porträtfilm von Jan Schmidt-Garre, sei es, das Gefühl zu haben, dass ein bestimmtes Werk ohne das eigene Zutun gar nicht entstanden wäre; das verleihe der Arbeit des Interpreten einen Sinn. „Das höchste Ziel ist, sich mit dem Werk zu identifizieren, so dass man fast schon der Komponist selbst ist. Aber das erreicht man eigentlich nie.“
Wie tief Aimard dabei in das Denken der Komponisten und die musikalische Substanz der Werke eindringt, geht aus einem Interview hervor, das beim Stockhausen-Festival der Münchner Musica viva 2015 entstand, wo er alle elf frühen Klavierstücke von Stockhausen erstmals öffentlich spielte. „Er war wirklich ein Pionier“, sagt er da über den Komponisten, „jedes Mal, wenn er etwas entdeckt hatte, realisierte er das kompositorisch auf unglaublich konsequente Weise.“ Die elf Werke hat er im Hinblick auf die Interpretation bis auf die letzte Note analysiert. „Für jedes Stück gibt es eine neue Herausforderung. Das ist ein bisschen wie bei den Sonaten von Beethoven. Und das ist einer der Gründe, warum diese Stücke so faszinierend bleiben.“ Und über Stockhausens Persönlichkeit sagte er im Zusammenhang mit dem Klavierduo „Mantra“, das er schon Ende der 1980er Jahre zusammen mit Pi Hsien-Chen und mit Stockhausen am Regiepult spielte: „Das ist unvergesslich, wie er jeden Klang im Raum strahlend zum Leben gebracht hat und wie er, einem Architekten gleich, die Form aufgebaut und unter Kontrolle gehalten hat. Die Arbeit mit ihm war faszinierend. Diese Vorstellungskraft, diese Ausstrahlung! Eine starke Persönlichkeit!“
Eine solche Begeisterung färbt natürlich auf die Interpretation ab. Aimards Spiel basiert auf einer profunden Kenntnis des Notentextes und zeichnet sich aus durch eine klare Darstellung auch der komplexesten Inhalte, souveräne Formgestaltung und einen modulationsfähigen, nie harten Klang. Ein geradezu klassisches, auf Ausgleich der Extreme bedachtes Ideal. An der 2016 in Frankfurt entstandenen Live-Aufnahme von Beethovens „Appassionata“ lässt sich das beobachten. Im Vergleich etwa zu Wilhelm Kempff, der die dramatischen Kontraste scharf herausarbeitet, wirkt Aimards Spiel emotional kontrolliert, fast sachlich, und in seiner durchartikulierten Körperlichkeit ist es vom feurigen Energiestrom einer Maria João Pires ebenso weit entfernt wie von der nichtssagenden Perfektion eines Yundi Lee.
Doch Aimard ist nicht nur der Solist auf dem Podium, der sein Publikum mit intelligent komponierten Programmen in Bann schlägt. Er ist auch Lehrer an der Kölner Musikhochschule und tritt als Liedbegleiter und Kammermusiker auf, 2009 bis 2016 war er künstlerischer Leiter des Aldeburgh Festivals. 39 CDs und DVDs dokumentieren sein thematisch breites Schaffen. Mit den Medien geht er professionell und sachdienlich um. In einem YouTube-Video gibt er auf präzise und unprätentiöse Art einen Einblick in seine Auffassungen zu Bachs „Kunst der Fuge“, ein Tutorial vom Klavierfestival Ruhr zeigt ihn beim Unterrichten von Ligetis Werken. Aimard, der Vielseitige. In eine Schublade lässt er sich nicht stecken.