Es ist im wahrsten und besten Wortsinn quasi aus der Luft gegriffen, das Thema Glaube, das sich das Lucerne Festival dieses Jahr gestellt hat: Ständig taucht es in polymorpher Erscheinung an die Oberfläche und verschafft sich seinen Platz im gesellschaftlichen Diskurs. Besonders aber auf musikalischer Ebene, in den Kreisen der Neuen Musik zumal, ist der Glaubenskontext in jüngster Zeit auffallend präsent. Entschloss sich etwa das Bach-Archiv in Leipzig, zur Feier des 800-jährigen Bestehens des Thomanerchors zu den höchsten Kirchenfeiertagen fünf Festmusiken in Auftrag zu geben, das „Forum Neuer Musik 2012“ des Deutschlandfunks setzte sich im Frühjahr auf seine Weise mit dem Thema auseinander unter dem Titel „Komponieren als Dialog mit Gott“ und sogar der Schweizer Theologe Hans Küng, der in Luzern die Eröffnungsrede des Festivals hielt, griff mit seinem Großprojekt „Weltethos“ im vergangenen Jahr selbst zum Mittel Musik, um sein Credo „Ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden“ zu postulieren, welches einer groß angelegten Auftragskomposition Jonathan Harveys zugrunde lag.
Eigentlich sollte dieses Phänomen kaum verwundern, bedenkt man aktuelle Glaubenskriege und -konflikte, die unsere Zeit maßgeblich prägen. Doch äußert es sich bei Komponisten von heute tendenziell weniger als Spiegel des Weltgeschehens denn als Suche, manchmal gar Ringen nach Mitte, Tiefe, Wahrhaftigkeit, nach einer anderen, immateriellen Dimension, die den Schaffenden aus der Welt der Kalkulierbarkeit heraushebelt. Neben der Reihe „Glaubensbekenntnisse“, die in wunderbar fokussierten Programmkonstellationen Glaubensaspekte beleuchtet und wirken lässt, ist es vor allem der zeitgenössische Arm des Lucerne Festival – Moderne, Academy und natürlich die Komponistin in Residence –, der sich intensiv und wirkungsvoll mit diesem ausnehmend tiefgründigen Festival-Thema auseinandersetzt.
Kaum eine Komponistin könnte sich hier als prädestinierter erweisen für die Rolle des „composer-in-residence“ als die Russin Sofia Gubaidulina. Sie ist nicht nur selbst ein tief gläubiger Mensch – Komponieren ist für sie untrennbar mit dem Glauben verbunden. Sie behauptet sogar, überhaupt keine weltliche Musik zu schreiben. Eine spannende Ergründung und Ausdifferenzierung dieser Haltung ermöglicht die Werkauswahl, die beim Lucerne Festival in verschiedenem Kontext zu erleben war, ein Spektrum, das von explizit religiösen Kompositionen wie dem gewaltigen Komplex Johannes-Passion und Johannes-Ostern bis hin zur extremen Reduktionsstufe in Werken wie „Im Anfang war der Rhythmus“ für sieben Schlagzeuger reicht, wo Glaubensinhalte bloß angedeutet oder auf abstrakter Ebene verarbeitet, dennoch um nichts weniger bestimmend sind. Gubaidulinas groß besetztes Doppeloratorium „Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes“, das die Junge Philharmonie Zentralschweiz, der Staatliche Akademische Chor „Latvija“ und vier Solisten in russischer Sprache im großen Saal des KKL zur Aufführung brachten, ist ein imposantes musikalisches Zeugnis von der Konsequenz, mit der Gubaidulina denkt und arbeitet. Die ungeheure Spannung der sukzessiven Gegenüberstellung von Johannes-Evangelium und -Offenbarung zieht sich durch das gesamte Werk. Obschon die Erzählebene von Jesu Christi Leidensweg, ganz im Unterschied zu Bachs Passionen, musikalisch weitgehend monoton und undramatisch gehalten ist, lässt die Intensität unter Andres Mustonens inspirierter Leitung in keinem Moment nach. Die intendierte Absenz einer mit Spannung und Entspannung, Konflikt und Auflösung arbeitenden Dramaturgie liegt nicht nur in der dezidierten Ablehnung von personeller Darstellung und überhaupt jeder Form von Theatralik in der russisch-orthodoxen Kirche begründet: Mit der Aufhebung eines durchgehenden Zeitstrahls konterkariert Gubaidulina die konkreten Passionsgeschehnisse so, dass die Idee des Anfangs im Ende und des Endes im Anfang in Wort und Musik tatsächlich erlebbar wird und der Hörer mit einem Gefühl von Ewigkeit in Berührung kommt, wovon man beim Klang von Orgel, Glocken und Vibraphon von Anfang an eine diffuse Ahnung verspürt, die sich durch den Prozess hindurch im Ende als Anfang klangmächtig manifestiert.
Im Gespräch beschreibt Sofia Gubaidulina den Glauben heute – im Unterschied etwa zu Bachs Zeiten – als einen Kampf, als ein schmerzliches Ringen um etwas, was im Begriff ist, verloren zu gehen. Dieser Kampf ist in ihrer Musik stets hörbar. „In unserer materialistischen Gesellschaft steht nichts Geringeres als das Göttliche auf dem Spiel. Der moderne Mensch tut sich schwer zu glauben, auch wenn er oftmals darunter leidet. Geht es um Glauben, wird sofort nach dem Nutzen gefragt. Wir sind an einen Punkt gekommen, wo es als unintelligent gilt, zu glauben. Wir arbeiten um zu essen und um Spaß zu haben, Wirkung folgt Ursache folgt Wirkung folgt Ursache auf einer horizontalen, eindimensionalen Schiene, die in ihrer letzten Konsequenz zum Verlust der Menschlichkeit führt“, erklärt die Komponistin. „Die vertikale Dimension, die Dimension der Höhe, der Spiritualität verkümmert dabei.“ Die Kräftelehre dieser zwei Ebenen, die sie im Symbol des Kreuzes liest, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. Sie bildet die Grundlage ihres Denkens und Schaffens und scheint ein Schlüssel zum Verständnis ihres Oeuvres zu sein. So wie sie in ihrem Doppeloratorium die zeitliche Ebene der Passionsgeschichte mit der überzeitlichen der Apokalypse verschränkt, thematisiert sie zu ähnlichem Effekt das Kreuz in ihrem Duo „In croce“ für Bajan und Cello. Der Klang bewegt sich immer im Raum und Spannungsfeld dieser Achsen. Ohne diesen Raum wäre Gubaidulinas Musik nicht möglich, erklärt sie. Selten hat man die Gelegenheit, eine Komponistin mit einer so eindrücklichen Leidenschaft für das konsequente Denken und dessen wahrhaftiges Erleben so differenziert kennenzulernen wie Sofia Gubaidulina diesen Sommer in Luzern.
Die vertikale Ebene, die in Gubaidulinas christlichem Kontext in die Höhe läuft, ist auch beim Sizilianischen Komponisten Salvatore Sciarrino zu entdecken. Bei ihm weist die Richtung vor allem in die Tiefe, in die Versenkung hin zur Stille. Durch sie öffnet Sciarrino eine ganz bestimmte Form der Wahrnehmung. Für diese Eigenwilligkeit ist sein Werk bekannt. Auch sie könnte man im weitesten Sinne als Glaubensangelegenheit bezeichnen. „Der Hörer ist das Zentrum der Welt. Nur mit dieser Perspektive lässt sich etwas Neues schaffen“, sagt Sciarrino. Objektivität und Theorien hält er für Irrtümer.
Im Rahmen der „Pollini Perspectives“ überzeugt Sciarrino mit drei vom Lucerne Festival beauftragten neuen Teilen seines im Entstehen begriffenen Zyklus’ „Carnaval“, der den Untertitel „Madrigali concertistici“ trägt. Musiker des Klangforums Wien, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und der Pianist Daniele Pollini brachten die drei Stücke im ersten Teil des Programms mit größter Feinfühligkeit und Sinnlichkeit zur Uraufführung. Sciarrinos Weg in die Stille erweist sich hier als überwältigendes Erlebnis. Im rein instrumentalen Mittelteil, der von zwei vokal-instrumentalen Stücken auf antike chinesische Texte gesäumt ist, wähnt man sich regelrecht in eine andere Dimension befördert. Die menschliche Stimme verliert sich in klageähnlichen Instrumentalklängen, flatternde Atemgeräusche der Blasinstrumente und Naturgeräusche erzeugen eine Atmosphäre mikroskopischer Nähe, in der das leiseste Geräusch übergegenwärtig erscheint. Die Stille wird fühlbar lebendig, nimmt den ganzen Raum ein und durchsetzt ihn mit Doppeldeutigkeiten: Ein fernes, kaum vernehmbares Donnergrollen etwa verwandelt die vordergründige Idylle in etwas Gespenstisches, bis ein gedämpfter Ruf der Posaune einen aus diesem anderweltlichen Mikrokosmos ins Reich der menschlichen Stimme und des Klaviers zurückholt. Der kompositorische Prozess gleicht sich in Sciarrinos Werken, doch gerade damit kreiert er diese unvergleichliche amplifizierte Wahrnehmung des „Jetzt“, dass man seinem Sog weder entrinnen kann noch möchte. Die musikalische Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten jeglicher Art führt im Kontext der zeitgenössischen Programme beim Lucerne Festival immer wieder zum Eindruck, dass sich eine spirituelle Ebene nur erfahren, von einem rein intellektuellen Prozess aber nicht erfassen lässt, genauso wenig wie die Wirkung der Musik selbst. Und immer wieder fühlt man sich dabei an Sofia Gubaidulinas Vorstellung erinnert von einer Musik als „eine Art göttlicher Vibration, die mit dem Menschen in Korrespondenz tritt“.