Sossenheim am westlichen Stadtrand von Frankfurt gilt als einer der weniger beliebten Frankfurter Stadtteile. Der Satiriker Chlodwig Poth schrieb hier seine bissigen Alltagsskizzen „Last Exit Sossenheim“, der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler nannte die Ansiedlung zwischen Nied und Unterliederbach „ein zum Durchgangsort verkommenes Dorf nahe der Autobahn“. 20 Jahre ist das her, aber auch heute noch schlängelt sich der Verkehr durch das einstige Straßendorf, das seit 1927 zu Frankfurt gehört. 16.000 Menschen leben hier, zum großen Teil in den vier seit 1960 ringsum errichteten Großwohnsiedlungen, die untereinander und mit dem Ortskern wenige Verbindungen haben. Der Anteil der Jüngeren ist um einiges höher als im Frankfurter Durchschnitt, und im Jahr 2020 waren von den 6- bis 13-Jährigen 26,8 Prozent Ausländer und 60,5 Prozent Deutsche mit Migrationshintergrund. Ab und zu komme es auch zu generations- und kulturbedingten Konflikten, sagen die Leute, vor allem aber lebten die Menschen nebeneinander her – nachzulesen im ausführlichen städtebaulichen Entwicklungskonzept der Stadt Frankfurt.
Eine Musik für alle, die Brücken baut
Aber wie so oft lohnt sich ein zweiter Blick: Da gibt es am Rande des Ortskerns in der Siegener Straße das Volkshaus – eine Initiative dreier Arbeitervereine, die in den 1920er-Jahren einen Treffpunkt brauchten. Gesangverein, Radfahrverein und Turnerschaft griffen zur Selbsthilfe und legten den Grundstein vor genau 100 Jahren. Ergänzt durch einen modernen Veranstaltungssaal, wird das Volkshaus inzwischen von der 1869 gegründeten städtischen Saalbau GmbH betrieben und bildet den begehrten und schnell ausgebuchten Mittelpunkt des Kulturlebens im Stadtteil. Und genau hier hat im Juni 2024 zum dritten Mal eine Sossenheimer „Stadtteiloper“ Premiere.
Dass das in Bremen, Leipzig und Potsdam bereits erprobte Konzept der Stadtteiloper auch in Sossenheim Fuß gefasst hat, ist keine Selbstverständlichkeit. Wer die Schwerfälligkeit der Institution kennt, weiß zu schätzen, wenn sich eine ganze Schule mit musikalischen Profis und interessierten Menschen aus der Nachbarschaft zusammentut. In diesem Fall war es die Henry-Dunant-Schule, eine der beiden Sossenheimer Grundschulen. Hier ergriffen vor allem die Musiklehrerin Anna Rumpf und Rektor Ulrich Grünenwald die fachliche und pädagogische Initiative.
Diversität hörbar machen
Und auch im professionellen Bereich findet sich nicht so schnell jemand, der sich auf eine derartige künstlerisch pädagogische Gratwanderung begibt. Hier war Sabine Fischmann, die vielseitige Frankfurter Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin der Motor. Erstes Resultat der Zusammenarbeit war die Stadtteiloper „Sehnsucht nach Isfahan“ im Jahr 2018. Die Zweite, „Planet Sossenheim“, brachte es wegen der kurzfristig hereingebrochenen Corona-Pandemie 2020 leider nur zu einer Filmversion. Bei der dritten Stadtteiloper, „Die Magie der Musik“, ist nun das Bridges Kammerorchester aus Frankfurt mit von der Partie. Das 2019 gegründete und überregional zunehmend beachtete Ensemble besteht aus 25 Personen aus 15 Nationen, die Instrumente verschiedener Herkunft spielen und sich zum Ziel gesetzt haben, „die Diversität der in Deutschland lebenden Gesellschaft hörbar zu machen“.
Dementsprechend hat Samira Memarzadeh, die Harfenistin des Ensembles, die einzelnen Nummern für die Stadtteiloper zusammengestellt, und fünf Ensemblemitglieder haben gezielt Patenschaften für die einzelnen Schulklassen der Jahrgänge 3 bis 4 übernommen und mit ihnen jeweils einen Teil des Programms einstudiert. Und so sind dann nicht nur Nicholas Kok (Dirigent), Berivan Canbolat (Baglama, und Gesang), Vladimir Dindiryakov (Kaval), Khadim Seck (Gesang und Perkussion) und Nicola Vock (Kontrabass) in prominenter Funktion auf der Bühne zu erleben, sondern nach und nach die halbe Schülerschaft der Henri-Dunant-Schule. Die andere Hälfte, nämlich die 1. und 2. Klassen, sitzt im Publikum und darf sich darauf freuen, in zwei Jahren die nächste Stadtteiloper mitzugestalten. An diesem Vormittag ist mit Bearbeitungen von Johann Pachelbels Kanon und Antonio Vivaldis Version des „La Folia“-Themas die „klassische“ Tradition europäischer Konzertmusik vertreten, mit „Miniyamba“ ein malisches und mit „Paradis“ ein senegalesisches Lied, mit „Zeytin Ağacı“ ein türkisches und mit „Baranê“ ein kurdisches. Vom Balkan stammen die Titel „Jovanko Javanke“, „Nana Tshoha“, „Şatra“ und „Ederlezi“. Teilweise wurden zu den Liedern neue Texte gedichtet, teilweise wird auf Vokalisen gesungen, und über die von Anne Rumpf angezeigten Solmisationszeichen gelingt mitunter auch eine stabile Zweistimmigkeit. Mit der Einstudierung des Roma-Liedes „Ederlezi“ sei auch das Selbstbewusstsein der Roma-Kinder in seiner Patenklasse gewachsen, gibt Dindiryakov nach der Aufführung zu Protokoll.
Offenohrigkeit stärken
Vor der Aufführung herrscht im Saal ein ohrenbetäubender Lärm von durcheinander rufenden Kinderstimmen, doch als es losgeht, hat Anne Rumpf als Moderatorin wenig Mühe, die nötige Ruhe herzustellen. Dann folgt eine wichtige Durchsage: „Der goldene Schlüssel zur Magie der Musik ist verschwunden. Wer ihn findet, darf ihn für immer behalten.“ Die Suche gestaltet sich schwierig. Auf einem Video oberhalb der Bühne sehen wir immer wieder vier Kinder beratschlagen, was zu tun sei. „Achtet nicht nur auf Euch selbst!“ und „Nicht streiten!“ sind dabei wiederkehrende Leitsätze. Immerhin ist man sich schnell einig, dass musikalische Aktivitäten gefragt sind, und tatsächlich liefert nach jedem Lied ein Bote ein Buchstaben-Paket an. Aber es dauert doch eine ganze Weile, bis daraus das Schlüsselwort „Zusammen“ entsteht und der goldene Schlüssel wieder erscheint – für alle, die ihn gemeinsam ersungen, erspielt und auch ertanzt haben. Gefeiert wird das temperamentvoll mit „Paradis“ und dem von Sabine Fischmann stammenden Schullied „Du bist okay, so wie du bist, okay“, in das die Jüngeren mit Begeisterung einstimmen. Und so darf man hoffen, dass die Kinder auch ihre musikalische „Offenohrigkeit“ weiter bewahren. Als Beobachter hat man jedenfalls den Eindruck: Egal, welche Art von Musik – sie bringen vollen Einsatz.
Ein großer Schatz
Anne Rumpf gibt ehrlich zu: „Für einige Kinder war die Arbeit eine große Herausforderung, und sie sind froh, dass die Oper jetzt vorbei ist. Auch das ist in Ordnung.“ Aber man wird ihr auch recht geben bei der Prognose, dass jedes Kind „einen großen Schatz gesammelt hat: einen Schatz aus Melodien, Texten, kleinen Ereignissen und Erfolgserlebnissen.“ Sabine Fischmann schildert das Zusammenspiel von pädagogischer Offenheit und künstlerischer Kontrolle. Sie berichtet, wie aus der Anfangsidee von der „Magie der Musik“ das Skript entstand – parallel zu Rollenspielen in der Theater-AG, zu Bildern im Kunstunterricht, zu Gesprächen über Themen, die den Kindern wichtig waren. „Ich konnte die Resultate auf einem Padlet sehen und durch sie mein Skript erweitern. Parallel dazu bekamen die Musiker*innen von Bridges mein Skript-Gerüst und konnten entscheiden, welche Musikstücke sie für welche Besetzung arrangieren und wann im Stück sie etwas spielen möchten.“
Dass die Henri-Dunant-Grundschule in diesem Schuljahr auch den zweiten Platz beim Frankfurter Schulpreis 2024 zum Thema „Frieden“ gewonnen hat, kommt an diesem Vormittag gar nicht zur Sprache. Dabei waren sicher ebenfalls viel Einsatz, Fantasie und gute Konzepte im Spiel – aber als hilfreicher Faktor im Hintergrund auch die Magie der Musik.
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