Gemessen an der Selbstverständlichkeit, mit der die chor.com 2013 über die Bühne ging, hätte man meinen können, der Dreiklang aus Messe, Workshop-Forum und Fe stival begleite die vielstimmige Szene schon seit vielen Jahren. Das soll nun nicht heißen, dass Zauber und Aufbruchstimmung, die von der Premiere ausgegangen waren, zwei Jahre später schon verflogen gewesen wären. Dem Allegro agitato von 2011 folgte – trotz deutlich gestiegener Teilnehmer- und Ausstellerzahlen – gleichsam ein vom veranstaltenden Deutschen Chorverband (DCV) souverän eingezähltes Allegro moderato.
Dementsprechend lapidar, aber durchaus unterhaltsam, wurde die zweite Ausgabe des Branchentreffs dann auch nicht mit einer großen, musikalisch umrahmten Eröffnungsveranstaltung eingeläutet, sondern mit einer von nmz-Herausgeber Theo Geißler moderierten Gesprächsrunde, in der DCV-Präsident Henning Scherf auf den Punkt brachte, was der Verband, ausgehend von seiner „Caruso“-Initiative für das Singen im Kindergarten, in den kommenden Jahren erreichen will: „Wenn das wachsende Interesse der Kinder und dann auch der Eltern am Singen mit gut ausgebildeten Chorleitern zusammenkommt, dann geht die Post ab!“
Wie speziell diese zum Teil musikferne Elterngeneration angesprochen werden könnte, darauf gaben die Veranstaltungen der chor.com freilich keine Antworten. Dafür thematisierten viele Workshops im engeren oder weiteren Sinne das Thema Singen mit Kindern oder Jugendlichen und Friedhilde Trüün präsentierte die Ergebnisse ihrer Bach-Arbeit mit über 200 Grundschulkindern. Dass auch ältere Menschen mit der Lust am Singen neu anzustecken wären, machte indes unter anderem der unermüdlich omnipräsente Michael Betzner-Brandt mit seinem 60plus-Chor „High Fossilitys“ deutlich.
Das dazugehörige Notenheft war eine von vielen Querverbindungen in die auch international ausgeweitete Fachmesse hinein, bei der sich rund 70 Verlage, Firmen und Institutionen präsentierten. Naturgemäß hielt sich der Ansturm an den Ständen im Dortmunder Kongresszentrum während der Workshop-Phasen in Grenzen, nach wie vor überwog bei den 70 Ausstellern aber die Zufriedenheit über ein spezifisch interessiertes Publikum aus Multiplikatoren (rund 1.500 Fachteilnehmer). Im Vorteil waren dabei jene Verlage, die auch in den Workshops (und zum Teil auch in den Konzerten) präsent waren – eine Möglichkeit, die auch kleinere Anbieter ohne großen Aufwand wahrnehmen könnten, etwa mit „Reading-Sessions“ ihrer Komponisten oder Herausgeber.
Baustellen
Ein Blick auf die über 150 angebotenen Fortbildungsveranstaltungen machte deutlich, dass nach wie vor der Bereich Jazz/Pop auf großes Interesse stößt, ebenso Bereicherungen des Repertoires beziehungsweise der Aufführungssituation durch Bewegung und improvisatorische Elemente. Auch zeitgenössische Musik spielt eine Rolle, wobei aber, mit wenigen Ausnahmen, Sanglich-Bekömmliches vorherrscht. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang, dass sich der Workshop zum vielversprechenden Thema „Neue Hörerlebnisse in der A-cappella-Musik des 21. Jahrhunderts…“ als Verlagsveranstaltung unter einem geänderten, leicht befremdlichen Titel entpuppte: „Musikalische Erkundungen im 20. Jahrhundert in der Musik von heute“ (sic). Auf dem Schwarzen Brett „ChorleiterIn trifft KomponistIn“ wiederum war genau ein Name verzeichnet, zu den jeweiligen Treffpunkten erschien an beiden Tagen niemand…
Hier hat die Szene also wohl noch Nachholbedarf oder ist – möglicherweise zu Recht – gerade mit anderen Dingen beschäftigt als damit, die Frage nach unerhörter Chormusik zu stellen. Wir wär’s zum Beispiel mit einem „Singen-Bündnis“? In einem von nmz-Herausgeberin Barbara Haack moderierten chor.com-Talk berichtete DCV-Geschäftsführerin Veronika Petzold von der mühseligen, aber lohnenden Aufgabe, im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – und dem Antragswesen des projekttragenden Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ausgeliefert –, qualitätvolle Kooperationen auf die Beine zu stellen. Der Kölner Musikpädagogik-Professor Jürgen Terhag nahm dabei den Part des Kritikers ein: In seinen Augen ist der Geldregen in Sachen kulturelle Bildung nicht mehr als die Bemäntelung eines Abbauprozesses. Eine Verstetigung gerade auch am zentralen Bildungsort Schule tue dringend Not, so Terhag, der gleichzeitig aber auch für eine Öffnung der Schulen und für eine Zusammenarbeit mit Fachkräften von außen plädierte.
Weitere kultur- und hochschulpolitische Baustellen, an denen der DCV kräftig mit anpackt, kamen auf der chor.com ebenfalls zur Sprache, etwa bei der Vorstellung des auch berufsbegleitend studierbaren Weiterbildungs-Masters Chorleitung, den die Berliner Hanns-Eisler-Hochschule in Zusammenarbeit mit dem Chorverband ab Februar 2014 anbietet. Bezeichnend war, was der dortige Chorleitungsprofessor Jörg-Peter Weigle zu berichten hatte: Ein anfänglich ebenfalls ins Auge gefasster Studiengang Ensemblesingen stieß auf taube bis entsetzte Ohren.
Solange es Musikhochschulen (die Düsseldorfer bilden die rühmliche Ausnahme) als unter ihrer Würde empfinden, Gesangsstudierende auch auf eine zumindest partielle Karriere in einem Chor oder einem Vokalensemble vorzubereiten, wird sich an dem im Roundtable „Berufsbild Chorsänger“ beklagten Nachwuchsmangel in Profichören nichts ändern. Dieser hängt auch – so Simon Halsey – mit dem Ansehen des Berufsstandes zusammen: Instrumentalisten sind stolz darauf, einen Orchestersitz ergattert zu haben, eine Stelle im Chor hingegen gilt als Eingeständnis gescheiterter Soloambitionen.
Vollgepackt mit neuen Anregungen machte sich das chor.com-Publikum abends auf den Weg in die bestens erreichbaren Konzertorte in der Dortmunder Innenstadt. Wer wenigstens hier auf das eine oder andere kompositorische Wagnis gehofft hatte, wurde wiederum enttäuscht, diesmal vor allem auch vom WDR Rundfunkchor unter Rupert Huber, der vor zwei Jahren noch ein höchst anregendes Eröffnungskonzert abgeliefert hatte. Die von Huber zusammengestellte persisch-deutsche Musik- und Textcollage rund ums Thema Rose erwies sich als überaus dürftig, sein „Nachklang Rose“ lebte einzig von der Vitalität des wunderbar aufspielenden Dastan Ensembles.
Dann doch lieber Schütz, zumal wenn die „Exequien“ so schlicht und so vollendet ausschwingen wie beim Dresdner Kammerchor unter Hans-Christoph Rademann. Oder Bach: Der Deutsche Jugendkammerchor und das ebenso jugendliche Originalklangorchester „Bachs Erben“ steigerten sich unter Robert Göstls Leitung nach anfänglichen Hemmnissen zu einer kraftvoll-bewegenden Darstellung der h-Moll-Messe. Altus Franz Vitzthum und Bassist Raimund Nolte führten das exzellente Solistenquartett an, Stefan Klöckner steuerte reflektierende Zwischentexte bei.
Eine in ihrer vokalen und soundtechnischen Makellosigkeit, in ihrer bis in kleinste Gags exakt getimten Choreografie beinahe absurd perfekte Show lieferte im Jazzclub domicil das Sextett „Slixs“ ab. Die musikalisch etwas unentschieden wirkende Substanz zwischen „When love comes to town“, Goldbergvariationen, Weltmusik und Jazz drohte allerdings immer wieder vom Wummern des Beatboxings erdrückt zu werden.
Im üppigen „Nachtklang“-Programm stachen die lässige Klasse von „Voces8“, der raumgreifende Mut zur Grenzüberschreitung des Mädchenchors am Essener Dom (unter anderem mit Karin Rehnqvists teils aberwitzigem „Triumf att finnas till“) und die Ausdauer des Steirischen Landesjugendchores Cantanima besonders hervor. Letzterer hatte sich über vier Tage hinweg in Jan Schumachers Intensivkurs als exzellenter Studiochor in den Dienst der Sache gestellt.
Am Ende entließ die chor.com 2013 ihre Besucher wie schon vor zwei Jahren in einen Zustand euphorischer Erschöpfung. Hinein mischte sich auch schon die Vorfreude auf die nächste Ausgabe: Man sieht und hört sich vom 1. bis 4. Oktober 2015 in Dortmund!