Die Zahlen beeindrucken durchaus: 25 Staaten; 450 Millionen Einwohner; wirtschaftliche Kennziffern, die das Zahlenvermögen des Durchschnittsmenschen locker sprengen. Auch scheint der Entwurf für eine Verfassung auf gutem Wege zu sein, in der die Menschen- und Bürgerrechte vorbildlich festgeschrieben sind.
Es ist unbestritten, dass ein über Jahrhunderte angestrebtes Ziel, ein geeintes Europa – zumal: ein in Frieden geeintes Europa – Realität geworden ist. Doch warum will so richtig keine Freude aufkommen? Jenseits der zur Euphorie verpflichteten Politik, die im Lob des geeinten Europas recht stark ein Lob für die eigene Politik zu sehen suggeriert, ist eine Europa-Begeisterung in der Bevölkerung kaum anzutreffen. Wer etwas anderes gehofft hat, den dürfte die magere Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen ernüchtert haben. Hand aufs Herz: Wer kennt schon seinen Europa-Abgeordneten? Fast alle Parteien haben ihre nationalen Politik-Helden in den Europawahlkampf geschickt. Die Prüfsteine des Deutschen Kulturrates wurden eher lustlos (wenn überhaupt) beantwortet. So traurig all dies ist: wen wundert es wirklich?
Denn wer interessiert sich schon für ein Parlament, das die meisten entscheidenden Rechte, die ein nationales Parlament hat, eben nicht hat? Ein gutes Beispiel ist die Personalentscheidung darüber, wer neuer Kommissions-Präsident werden soll. Man hörte viel davon, wie Schröder oder Chirac mauschelten, man hörte Namen auftauchen und wieder verschwinden. Nur hörte man nie, dass das Europa-Parlament etwas mitzubestimmen hätte.
Auch in der neuen Verfassung, die einen durchaus respektablen Grundrechtekatalog enthält, bleibt die Differenz zu einem regulären Parlament recht groß: Die Macht sitzt vornehmlich bei der Exekutive. In Europa entscheidet auch zukünftig die Kommission, und was diese nicht entscheidet, entscheiden die „Räte“ der nationalen Regierungschefs oder der Fachminister. Erst dann gibt es – vielleicht – ein Anhörungsrecht des Parlaments.
Kenner wissen, dass es bei der Europäischen Union ein mehrfaches Defizit gibt: Ein Demokratie-Defizit, so wie es oben angedeutet wurde, aber auch ein Defizit in Sachen europäische Identität und ein Defizit an einer genuin europäischen Öffentlichkeit. Das Fatale an dieser Situation ist, dass alle drei Struktur-Defizite sich untereinander verstärken.
Diesen gordischen Knoten könnte vielleicht eine wahrhaft demokratische Verfassung durchschlagen. „Demokratisch“ hieße dabei, dass die Bevölkerung die meisten Entscheidungen unmittelbar selbst treffen müsste. Dies bedeutete insbesondere, dass es nicht zu viele Vermittlungs-Instanzen oder Puffer-Zonen zwischen dem artikulierten Willen der Bevölkerung und den letztlich beschlossenen Gesetzen geben dürfte. Dazu müsste allerdings die Bevölkerung auch häufiger gefragt werden. Es gibt dagegen in vielen entwickelten Demokratien einen fatalen Trend dazu, die Bevölkerung nicht zu häufig mit Entscheidungen zu belasten. Diesem Trend folgt auch der zur Zeit vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung.
Es gibt allerdings auch keine europäische Öffentlichkeit, in der diese Frage diskutiert wird. Es wird daher bei dem bisher vorliegenden Konstrukt bleiben, bei dem sehr stark die ursprüngliche Regelungslogik der europäischen Integration, nämlich die Aushandlungsmodelle in der Wirtschaftspolitik, erkennbar sind. Insbesondere ist diese Handlungslogik dadurch gekennzeichnet, dass Spezialisten gerne unter sich bleiben. Wer dies nicht glaubt, versuche einmal, präzisere Informationen über den aktuellen Diskussionsstand über das GATS-Abkommen zu erhalten.
Eine Rettung gäbe es allerdings vielleicht. Und diese liegt in einer integrierten Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik. „Jugend“ deshalb, weil hier die Neugierde auf andere am größten ist. „Bildung“ deshalb, weil die Begegnung mit dem Fremden nicht so einfach ist, wie es eine Europa-Rhetorik oft suggeriert. Und „Kultur“ deshalb, weil sie die Herzen der Menschen berühren kann.
Eine europäische Kulturpolitik wäre eine Politik der Begegnung, wäre eine Politik, die Freude an kultureller Vielfalt erzeugt. Kulturelle Vielfalt drückt sich in den Künsten aus. Sie ist aber auch an der erstaunlichen Vielzahl von Lebensmodellen abzulesen, in denen die Menschen ihr Glück auf Erden realisieren wollen.
Die europäischen Regierungschefs haben zwar in Lissabon vereinbart, Europa zum stärksten, wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen. Aber wollen das die Menschen wirklich – und was haben sie davon? Wenn dies bedeutet, dass die Zahl der Millionäre und Milliardäre steigt, dass die Schere zwischen Arm und Reich aber weiter auseinander geht, dann bewegt dieses schwungvolle Ziel zurecht keinen Menschen, es sei denn, er gehört selbst zu den Millionären. Wie weit muss man von der Lebensrealität der Bürger entfernt sein, um nicht mehr zu wissen, dass es um ganz andere Werte und Ziele geht als um eine größenwahnsinnige Tonnen-Ideologie. Wo sind die Visionen für das „europäische Sozialmodell“? Wo bleiben die Vorstellungen einer Kultur des Friedens?
Die Kulturpolitik könnte hierbei helfen. Das Problem ist, dass eine solche Politik offenbar die Veränderung der bisherigen Wirtschaftsmentalität, eine Veränderung des Denkens in Kategorien des Gewinns, der Zahlen und des bloß materiellen Erfolgs zur Voraussetzung hat. Wer also ein kulturelles Europa will, sollte nicht auf die offizielle Politik warten. Vermutlich wäre es auch noch nicht einmal falsch, wenn ein solches Europa von unten aufgebaut werden würde. Fangen wir damit an.