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Peter Bromig spielt auf der MS Schwalbe Manos Tsangaris' "Beiläufige Stücke: Schwalbe". Foto. Stefan Pieper
Peter Bromig spielt auf der MS Schwalbe Manos Tsangaris' "Beiläufige Stücke: Schwalbe". Foto. Stefan Pieper
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Freundliche Blicke auf den Ursprung und viel energische Schönheit bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik

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Wenn Friedrich Schiller von „energischer Schönheit“ spricht, appelliert er an einen emanzipatorischen Wagemut, mit der das ästhetisch Neue das Leben wandelt und gesellschaftliche Entwicklung hervorbringt. Den ungarischen Komponisten Peter Eötvös fasziniert an Schillers kunstheoretischem Manifest, „dass er gesellschaftliche Veränderungen von der Ästhetik her denkt und nicht aus wirtschaftlichen Zusammenhängen heraus.“ Gute Gedanken für ein Festival wie den Wittener Tagen für neue Kammermusik, das sich unermüdlich an der Weiterentwicklung von Ästhetiken abarbeitet und diese zu kommunizieren weiß.

Peter Eötvös konnte für die Uraufführung seiner Komposition „energische Schönheit“ auf das Ensemble Modern zurückgreifen. Dieses formierte sich beim Eröffnungskonzert im Wittener Festsaal – augenscheinlich ganz herrschaftsfrei und unhierarchisch – zu einem Kreis und integrierte zudem die Sängerinnen und Sänger der Schola Heidelberg. Instrumentale Signaleffekte seitens des wie gewohnt extrem farbenreich aufspielenden Frankfurter Klangkörpers ordneten sich hier einmal mehr dem Wort unter – so wie sich bei den Wittener Tagen die Musik nicht selten einem dezidiert deklamatorischen Ziel verschreibt.

Beziehungen zwischen Wort und Musik formten in Witten einen vielfältig ausgedeuteten, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven heraus interpretierten thematischen roten Faden. Mit Textvorlagen aus alten Zeitkontexten, die aber oft mit verblüffender Aktualität die Musik überhöhen, stand die bestechende Uraufführung der Eötvös-Schiller-Konstellation keineswegs auf verlorenem Posten. Dem Italiener Stefano Gervasoni war ein Programmschwerpunkt gewidmet, der in Wittens Johanniskirche verinnerlichte Kargheit und sakrale Strenge evozierte. Gervasonis Zyklus „Dir – in Dir“ für sechs Stimmen und Streichsextett forderte dem Hörer mit introvertiert-getragenenem, repetitiven Gestus einiges in Sachen Konzentration ab.

Den semantischen Gesetzmäßigkeiten beim Sprechen, vor allem in Sachen Betonung und Artikulation hatte die Japanerin Chikage Imai ihre eigene kompositorische Logik abgeschaut und ihr Stück „Morphing – State of Matter“ zugleich den Opfern der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan gewidmet. Das Ensemble Modern erwies sich auch hier als überaus hellhörig beim Übersetzen von scheinbar Abstraktem in eine leuchtende, hier von subtilem Obertongeflecht gezeichnete Klangsinnlichkeit.

Neben den ohnehin verlässlichen Ensembles ließen auch einige fantastische Einzelinterpreten aufhorchen. Und wenn eine Komposition direkt auf die spielerischen Potenziale eines Spielers passt, scheinen alle Ziele für ästhetische Erneuerung erreicht. Der Schweizer Heinz Holliger, der sich ohnehin auf die Ausforschung neuer Wege für die kühn-virtuose Entfaltung versteht, zeigte in seinem verquer betitelten Stück „Cyndaredd brenndwyd“ dem Hornisten Saar Berger alle in dieser Hinsicht möglichen Wege auf, um mit dynamischen Effekten, Sfozati und Modulationen einmal mehr den Saal in Hochspannung zu versetzen. Auch der begnadete Michael Svoboda sorgte auf seiner Posaune für Beifallsstürme in einem weiteren Holliger-Stück.

Kurzweilige Dramaturgien auch innerhalb der einzelnen Konzertblöcke verhelfen mehr noch als in der Vergangenheit zu kurzweiligen Hör-Sitzungen in Witten. So etwas hält nicht zuletzt viele Neueinsteiger in Sachen zeitgenössischer Kammermusik bei der Stange. Und es kommen zunehmend jüngere Konzertbesucher zu den Wittener Tagen. Vor drohender Überhalterung des Publikums scheint zumindest dieses Segment des Musikbetriebs einigermaßen geschützt zu sein.

In Witten ist allerhand möglich. Dass jedoch ein Ausflugsdampfer als notiertes „Instrument“ in einer Partitur auftaucht, dürfte auch bei diesem Gipfeltreffen der neuesten Klänge ein Novum sein. So geschehen in Manos Tsangaris' Projekt „Beiläufige Stücke: Schwalbe“. Nach letzterem Vogel ist das Schiff, das auf dem Kemnader Ruhr-Stausee kreuzt, benannt. Jetzt nun fuhr das Publikum über den See, mit offenen Ohren und freiem Blick für das Gesamtgeschehen, das sich in Tsangaris Freiluft-Inszenierung aus aufwändig Geplantem und rein Zufälligem mischte. Wo letztlich alles, und damit auch die Natur-Landschaft zum Teil der Darbietung wurde.

Und die ist an diesem Frühsommermorgen derart intensiv, dass relativ reduzierte, aber feinfühlig aufeinander abgestimmte Mittel völlig ausreichen. Als da wären zwei Hornisten, deren wiederholte Signalmotive gar nicht so weit vom Vokabular seemännischer Signalsprache entfernt sind. Sängerinnen und Sänger, die in kunstvollen Gesangslinien, aber auch verbalen oder dadaistisch-phonetischen Sprachfetzen die Emotionalität des Augenblicks kommentieren – und zwischendurch am Ufer durch allerhand pantomimische Komik optisch in Erscheinung treten.

Dazu rückt das übliche morgendliche Treiben an einem Freizeit-See ganz beiläufig, oder vielleicht doch gar nicht so beiläufig ins Zentrum: Jogger, Angler, einige Wildcamper, die verschlafen aus ihren Zelten blinzeln, komplettieren ganz selbstverständlich den Mix der Wahrnehmungen. Eine Akteurin, die synchron zur Fortbewegung des Schiffes am Ufer ein endlos langes Tuch ausrollt, entfesselt den fröhlichen Spieltrieb dreier Hunde. Alles gehört dazu an und auf diesem See, der eigentlich ein Fluss ist, und ohne den es dieses „Ruhr-Gebiet“ und damit die Stadt Witten und letztlich auch diese traditionsreiche Veranstaltung nicht geben würde. Darauf verweist Manos Tsangaris' aufwändiges und vielbeachtetes Projekt aufs freundlichste, denn es lässt Berührungen mit den Ursprüngen zu.

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