Als «Abenteuer» hat Udo Lindenberg das Musical-Projekt «Hinterm Horizont» oft bezeichnet, als «Experiment» und als «ein Stück Pionierarbeit». Wie revolutionär diese «Fusion aus Musical, Theater und Rock'n'Roll» für das Musiktheater nun wirklich ist, sei dahingestellt. In jedem Fall haben die Beteiligten ein sehr unterhaltsames Stück auf die Bühne gebracht, das eine anrührende Geschichte erzählt, mit den starken Liedern von Udo Lindenberg. Ganz ohne Kitsch geht es zwar nicht, aber das Stück soll ja, wie auch Lindenberg sagt, in erster Linie unterhalten.
Eine Botschaft hat «Hinterm Horizont» bei allem Unterhaltungsanspruch aber schon: Schließlich ist das Stück nicht nur eine Liebesgeschichte zwischen Udo und einem Mädchen aus Ost-Berlin, sondern erzählt auch «unsere deutsche Story» (Lindenberg) von Trennung und Wiedervereinigung insgesamt. Nachdem Hauptdarsteller Serkan Kaya als Udo das Mädchen kennengelernt, verloren und schließlich nach der Wende wiedergefunden hat, wendet er sich nach rund zweieinhalb Stunden emotionalen Aufs und Abs an das Publikum und sagt: «Jetzt müssen wir nur noch die Mauer in unseren Köpfen einreißen.»
26 Udo-Lindenberg-Songs
Vor diesem Schlusspunkt liegen von «Andrea Doria» bis «Hinterm Horizont» insgesamt 26 Udo-Lindenberg-Klassiker, die sich fast alle perfekt in die Geschichte einfügen und die leisen und lauten Momente im Leben der beiden Hauptfiguren begleiten. Die Geschichte beginnt in der Gegenwart: Eine Journalistin begibt sich auf die Suche nach dem Mädchen, das auf einem Foto von 1983 Udo Lindenberg umarmt. Sie findet Jessy Schmidt (Anika Mauer), und lässt sich ihre Geschichte erzählen: Vom ersten Zusammentreffen der jungen Jessy (Josephin Busch) mit Udo Anfang der 80er bei einem Auftritt Lindenbergs im Palast der Republik, von der Trennung, Jessys erzwungener Kooperation mit der Stasi, dem Wiedersehen in Moskau, der abermaligen Trennung. Schließlich kommt es, mehr als 15 Jahre nach der Wende, zu einem von der Journalistin initiierten Wiedersehen in Hamburg, wo Udo dann gleich noch erfährt, dass er Vater ist.
Die dramatischen Augenblicke der Liebesgeschichte der beiden wechseln sich ab mit einigen sehr komischen Situationen und Dialogen aus der Feder von Thomas Brussig, der in Ost-Berlin aufwuchs und schon in seinem als «Sonnenallee» verfilmten Roman «Am kürzeren Ende der Sonnenallee» die 70er und 80er in der DDR aus seiner Sicht beschrieb. Wohl der absurdeste Moment in «Hinterm Horizont» ist ein erfolgloses Casting, mit dem die SED-Parteiführung Udo mit seinen eigenen Waffen schlagen und - nach seinem Vorbild - einen eigenen Star schaffen will. Zentrales Element des von Raimund Bauer großartig gestalteten Bühnenbildes ist ein riesiger Lindenberg-Hut, unter dem Udo und Jessy immer wieder zusammenfinden.
In Udo Lindenbergs Leben hat es tatsächlich ein «Mädchen aus Ost-Berlin» gegeben - auch wenn das bereits 1973 entstandene Lied nicht von ihr handelt. Er hätte sie auch gerne bei der Premiere dabei gehabt, wegen des zu erwartenden Medienrummels wolle sie sich das Stück aber lieber irgendwann später anschauen, sagte er.
Stehende Ovationen
Mit Beifallsstürmen und stehenden Ovationen haben die Zuschauer die Premiere am Donnerstagabend gefeiert. Im Theater am Potsdamer Platz verfolgten rund 1800 zumeist geladene Gäste die deutsch-deutsche Liebesgeschichte, darunter der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sowie zahlreiche Sänger und Schauspieler. Für den Schlussapplaus kam Lindenberg auf die Bühne und sang zwei seiner Lieder selbst. Das dreistündige Stück ist eine Produktion der Stage Entertainment in Zusammenarbeit mit dem St. Pauli Theater Hamburg.
Für die Besetzung des Rockmusicals mussten laut Stage im Vorjahr 250 Künstler vorspielen. Inzwischen umfasst das Ensemble 33 Künstler. Die Hauptrolle spielt Serkan Kaya (Udo). Seine junge Liebe aus Ost-Berlin (Jessy) wird von Josephin Busch verkörpert, die erwachsene Jessy von Anika Mauer. Regie führt Ulrich Waller.
Die Veranstalter hatten vor Beginn der Premieren-Vorstellung als DDR-Volkspolizisten kostümierte Darsteller am Theater postiert. Lindenberg und seine Entourage fuhren mit einem originalen Volkspolizei-Einsatzwagen der sowjetischen Marke Lada und einem golden lackierten Trabant vor. Zu den prominenten Gästen des Premierenabends zählten der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, die Schauspieler Ulrich Tukur, Otto Sander, Peter Sodann, Martina Gedeck, David Bennent und der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière.