Das sirenenartige Glissando am Anfang von Ondrej Adameks Komposition „Blow up“ schien wie ein Weckruf, um in Witten mit latent aufrührerischer Frechheit auf alle nun folgenden Klang-Abenteuer einzustimmen. Wer die Wittener Tage für neue Kammermusik verfolgt, begibt sich hier an die Quelle – dorthin, wo Ensembles und „ihre“ Komponisten im intensiven lebendigen Austausch Ideen reifen lassen, Neues ausforschen und kompromisslos umsetzen. Und Harry Vogt hat der aktuellen Festivalausgabe einmal mehr zu einer spezifischen Farbe verholfen.
Während sich allerorten das Ruhrgebiet selber feiert, ging in Witten der Blick nach Wien. Das trug dem runden Geburtstags vom Klangforum Wien, wohl „dem“ Wittener Referenzensemble Rechnung, half aber auch, die musikhistorische Verwurzelung von musikalischer Moderne programmatisch zu verdeutlichen.
So demonstrierte das Klangforum Wien in Anton Webers Kammersinfonie, wie sich einst ein alter Gattungsbegriff von allem Bombast entschlackt fand. Und diese Interpretation leuchtete ein Farbspektrum aus, welches in heutigen Tagen ein Friedrich Cerha hellhörig zu nutzen weiß. Der Wiener Cerha feierte ein spätes Debut in Witten und bedankte sich in seiner aktuellen Komposition „Bruchstück, geträumt“ mit einer hauchzarten musikalischen Traumsequenz, bei der vor allem diese elegischen Streicher-Flächen so berückend deutlich auf die Zweite Wiener Schule verweisen. Das wirkte in Witten schon fast exotisch – wo sich hier vieles neue Material doch nicht selten aus kühler Abstraktion, aus physischen Prozessen oder zuweilen auch aus Computeralgorithmen nährt.
Komponisten und ihre Interpreten agieren in der Neuen Musik meist in engster Berührung miteinander. So etwas reicht bei den Widmann- Geschwistern bis ins Familiäre hinein. Als Kinder spielten Jörg und Carolin Widmann mit Stofftieren berühmte Opern-Handlungen nach. Jetzt schreibt Jörg Widmann seiner jüngeren Schwester extremste spielerische Herausforderungen sozusagen direkt auf die Finger. Alleine durchmaß Carolin Widmann mit ihrer Violine das Halbdunkel des märkischen Museums. Währenddessen spielte sie sich in einem Etudenzyklus regelrecht in Trance hinein, jonglierte schwindelerregend mit expressiven Flächenklängen, beschwörenden Arpeggien, bizarren Pizzicato-Impulsen, nicht selten all dies gleichzeitig – ein beschwörender Sog!
Harry Vogt hat sich für die aktuelle Festivalausgabe gewissermaßen aufs „Kerngeschäft“ zurück besonnen. Die originären Uraufführungs-Ereignisse und eine Musizierkultur in höchster Funkreife wollen dabei kompromisslos im Zentrum stehen. Über weite Strecken übernahm der Ensemble-Gründer Beat Furrer selbst das Dirigentenpult bei den so vielen, so unvorhersehbar-unterschiedlichen Konzerten mit dem Klangforum Wien, jenem selbstverwalteten Künstler-Kollektiv, das in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiern kann. Regelrecht in Rage spielten sich diese mit allen Wassern gewaschenen Instrumentalisten in Matthias Pintschers „Sonic Eclipse“ hinein. Der gebürtige Marler und einstige Henze-Schüler praktiziert in diesem neuen Werk seine Vorlieben für aufbrausendes Pathos, raffinierte solistische Interaktionen und extreme klangliche Verfeinerungen in vollendeter Reife.
Friedrich Cerha vereinte die Großkultur mit der Subkultur in den Wiener Cafés und Salons – und zog bei seinem ausgiebigen Witten-Gastspiel die dadaistische, zwischen Nonsens und Gesellschaftssatire pendelnde Un-Poesie eine Ernst Jandl heran. So etwas kleideten der Vokalist Martin Winkler und eine kleine Gruppe des Klangforums in eine gleichsam virtuose wie charmante Salon-Atmosphäre, die vor allem den Nerv der ausgiebig in Witten angereisten Wiener Zuhörerschaft traf.
Und die subversive großstädtische, und speziell auch Wienerische Clubkultur lebte in Witten auf. Die direkte Nähe der heiligen Aufführungshallen zum Bahnhof hat hier immer schon für wirkungsvolle atmosphärische Kontrapunkte gesorgt. Sowas leistet einmal mehr der etwas heruntergekommene, in bunte Farbe getünchte ehemalige Wartesaal des Hauptbahnhofs, den die Studenten-Szene unlängst zum Unikat-Club ausgestaltet hat. Hier zelebrierte ein Künstler wie der Wiener DJ und Turntablekünstler Dieb 13 seine fröhlichen Wiederbelebungen von postmoderner Dekonstruktion, als er bergeweise Vinylplatten einsetzte, um ein Kaleidoskop aus Soundschnipsels und Musikzitaten übereinander, gegeneinander zu schichten. Und auch die harschen Laptop-Geräuschwelten eines Franz Pomassl führen im Untergrund den Geist der Neuen Musik absolut stimmig fort. Derweil bediente Schlagzeuger Martin Brandlmayer eine Facette, die in Witten einen gewissen Raritäten-Status beantragt: Gleichförmig pulsierende, minimalistische Rhythmus-Patterns.
Einen ausführlichen Bericht zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik lesen Sie in der Juni-Ausgabe er nmz.