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Zemlinskys „Kleider machen Leute“ in Görlitz. Foto: Pawel Sosnowski
Zemlinskys „Kleider machen Leute“ in Görlitz. Foto: Pawel Sosnowski
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Grenzstädtisch, aber kaum grenzwertig: Alexander Zemlinskys „Kleider machen Leute“ am Theater Görlitz

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Ein vermeintlicher polnischer Graf, der die ihm angediente Rolle als Hochstapler unwillkürlich genießt, mag in der deutsch-polnisch geteilten Stadt Görlitz-Zgorzelec zusätzliche Reize haben: Alexander Zemlinskys Keller-Oper „Kleider machen Leute“, die als Spielplanbesonderheit im Gerhart Hauptmann-Theater auf dem Programm steht, sorgt in der Inszenierung des Generalintendanten Klaus Arauner ebenso für Überraschungen, wie das Spiel der Neuen Lausitzer Philharmonie unter Ulrich Kern.

Als Regisseur setzt der Hausherr auf die Mittel des armen Theaters und den zumeist tatsächlich leeren Raum; das im Schlussakt integrierte pantomimische Spiel im Spiel erhebt er zum durchgängig ordnenden Prinzip. Das szenische Vorspiel der Oper, mit dem Abschied des Schneidergesellen Wenzel Strapinski von seinen beiden Kollegen (Tommaso Randazzo und Carsten Arbel), erfolgt vor dem eisernern Vorhang. Dahinter symbolisieren acht goldgewandete Balletttänzer mit goldenen Koffern den Reichtum jenes unbenannten Grafen, dem die Kutsche gehört, in welcher der Schneidergeselle von einem zwielichtigen Kutscher (Dieter Goffing) unentgeltlich mitgenommen wird.

Den Aufbruch Strapinskis in die Welt macht die Choreografie von Dan Pelleg und Marko E. Weigert zu einer Weltreise: dabei dienen die Koffer nicht nur als Kutsche, sondern im anschließenden Zwischenspiel auch als Flugzeug und fliegender Teppich, als Eiffelturm, Windmühle und Meeresbrandung. Das Outfit des Schneiders, im roten Frack und Zylinder, scheint eher auf einen Zirkuskünstler als auf einen Grafen zu verweisen und steht im Gegensatz zum besungenen Aussehen mit Zobel (Ausstattung: ÄNN). Von den Goldgewandeten – nomen est omen – wird er in Golda abgeliefert.

Dann senken sich zwei Lichterketten, die den Wirtshausgarten definieren. Zwei Vögel flattern an Fäden (und einer davon stürzt in der besuchten Aufführung offenbar unbeabsichtigt ab, aber die Metapher stimmt auch so!). Für Strapinski und für die noble, in Violetttönen gewandete, höhere Gesellschaft von Spießbürgern lässt der Wirt aufgeblasene Sessel hereintragen. Und wenn die Herren mit ihrem fremden Gast sich wohlig in Rauchopfern ergehen (eine deutliche Hommage des Librettisten Leo Feld an den Zigarreraucher Zemlinsky), dann schwadern weiße Ballerinas und Ballerinos im schwarzen Tutu als Rauchringe durch den Raum.

Ungewollte Assziationen zu Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ schafft eine leuchtende Rose, die Strapinski der in ihn verliebten Amtstochter Nettchen überreicht; Nettchen schenkt ihm im Gegenzug einen Apfel, den er von ihr anbeißen lässt. Die Honoratioren von Golda bestechen den vermeintlichen adeligen Potentaten mit Geldscheinen. Den von Strapinski zur Nachtruhe bestiegenen Berg geliehener Möbelstücke umgeben bunte, auf dem Boden verteilte Kerzen-Ampeln: ein bewusster Überkitsch, passend zu Zemlinskys ironischem Zitat von Humperdincks „Abends, wenn ich schlafen geh’“.

Der im zweiten Akt für Nettchens Salon-Darbietung der Heine-Vertonung, „Leg’ deine Wang’ an meine Wang’“, live gespielte weiße Flügel wird wiederholt von Sängerdarstellern betreten, dann öffnet sich der Vorhang für die tatsächlich erste Raum-Dekoration: eine protzig goldumrahmte Operafolie, auf die ein Kitschgemälde projiziert ist. Anstelle der Honoratioren tanzt das Ballettensemble in freizügigen Kellnerinnenkostümen auf und um eine runde Sekttafel den die Gesellschaft musikalisch karikierenden Walzer.

Im Schlussakt prangt eine gigantische Verlobungstorte, in deren Innerem, auf einem stummen Diener, ein Duplikat der Nobelkleidung Strapinskis versteckt ist. Der Meister des Schneidergesellen als Prologus bietet eine schwule Modeschöpfer-Parodie à la Mooshammer (mit Hündchen-Puppe), während die Kellnerinnen und die beiden Gesellen die Geschichte pantomimisch verkörpern.

Wenn Strapinski sich dem weiterhin zu ihm stehenden Nettchen als „schuldlos-schuldig“ erklärt, so ist dies dramaturgisch ein Bogenschlag zur Handlung der von Alexander Zemlinsky an der Wiener Volksoper erstaufgeführten Oper „Der Kobold“, op. 3 von Siegfried Wagner, mit dem dieser seinerseits kompositorisches Neuland betreten hatte.

Wie bei den vorangegangenen Wiederaufführungen von „Kleider machen Leute“ im späten 20. Jahrhundert, wurde auch in Görlitz Zemlinskys zweite Fassung aus dem Jahre 1922 gewählt, in welcher der Komponist, zwölf Jahre nach der Uraufführung, seinen Dreiakter zum Zweiakter verdichtet hat. Der Gewinn der Zweitfassung liegt insbesondere im neu entstandenen Zwischenspiel vor dem Schlussbild, das in grotesker Überspitzung des vordem spätromantisch verarbeiteten Materials hörbar bereits einer neuen künstlerischen Epoche angehört. 

Während in der Neuproduktion der 23-köpfige Chor anfangs schwer zusammen fand, agierte und sang das Ensemble stimmig und durchaus rollendeckend in seiner Skurrilität, zum Teil in mehreren Partien. Weniger glücklich erscheint die Besetzung von Nettchen durch Audrey Larose Zicat, mit scharfen Höhen. Stimmlich die überzeugendste Leistung bot Tim Stolte als abgeblitzter Verlobter Melchior Böhni, der dann die Wahrheit um den fremden Nebenbuhler enthüllt. Auch der Tenor Jan Novotny als Wenzel Strapinski leistet Beachtliches. Als vermeintlicher polnischer Graf flicht er einige polnische Brocken in seine Partie ein. Mit Ausnahme der melodramatischen Worte des Prologus, dessen Text nur auf Polnisch projiziert wird, sorgen deutsch-polnische Übertitel in der Europastadt für allgemeine Verständlichkeit.

Neben dem Einfallsreichtum der Inszenierung und der Präzision und geradezu kontorsionistischen Biegsamkeit der Tanzcompany des Gerhart Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau, bietet die Neue Lausitzer Philharmonie die größte positive Überraschung: Trotz der – wohl auch der Enge des Orchestergrabens geschuldeten – sehr kleinen Streicherbesetzung (6–5–4–3–2) klingt die Partitur, mit dreifachem Holz und Blech, Tuba und Harfe (letztere in der Proszeniumsloge klanglich besonders prominent), einnehmend stimmig. Der Klangkörper intoniert sauber, und das col legno im Schlussakt klingt insistierend aggressiv.

Die Doppelbödigkeit dieser Partitur hat Ulrich Kern trefflich herausgearbeitet: Das nur scheinbar schlichte „Schneiderlein“-Lied des Vorspiels, das in seiner Ganztonharmonik die Tür zur Neuen Musik öffnet, zieht sich in teilweise grotesken Verstellungen als Hauptthema durch die gesamte Oper. Kern hat das klug herausgearbeitet, und auch die klangliche Skurrilität des Walzers ist trefflich pointiert.

Mit dem Einsatz des Wiener Walzers folgt Zemlinsky dem von seinem engsten Freund Erich J. Wolff eingeschlagenen Weg, der bereits 1903 in – dem Zemlinsky autobiographisch verbundenen – Opus 4 der Salonkultur eine Absage erteilt und daher den Walzer ausgehöhlt hatte (vgl. die Wolff-CD CTH 2586); aber auch Zemlinskys eigene Erfahrungen als (Operetten-)Kapellmeister am Wiener Carl-Theater finden hier ihren künstlerischen Niederschlag.

Das 68-seitige, reiche Programmheft mit zahlreichen farbigen Abbildungen (Dramaturgie: Sebastian Ritschel) bildet selbstbewusst den Gegensatz zur gewählten Ästhetik des armen Theaters.

Die Nachmittagsvorstellung des 1. Adventsonntags besuchten erfreulicherweise auch einige Kinder, aber insgesamt überwog die Zahl der Besucher nur wenig die der Beschäftigten unter, auf und hinter der Bühne. Gleichwohl sollte das Gerhart Hauptmann-Theater sein Beschreiten ausgetretener Pfade des Spielplan-Repertoires fortsetzen. Der herzliche Applaus schien dies zu bekräftigen.

Weitere Aufführungen: 15. Dezember 2012, 7. April, 3. Mai 2013.

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