„Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände ...“ Viel mehr als dieser Schlager hat sich aus Paul Abrahams Erfolgs-Operette „Viktoria und ihr Husar“ von 1930 im kulturellen Gedächtnis nicht gehalten. Nun ist am Stadtheater Gießen mit der „Uraufführung der bühnenpraktischen Rekonstruktion“ eine frappierende Neuentdeckung zu hören und zu sehen.
Dem ungarisch-jüdischen Komponisten Paul Abraham (1892–1960) hat das 20. Jahrhundert übel mitgespielt. Er stammte aus der heute serbischen Kleinstadt Apatin, feierte seine ersten Erfolge als Operettenkapellmeister und -komponist in Budapest und zog dann ins pulsierende Berlin. Vor den Nationalsozialisten flüchtete er ins Exil, zuerst zurück nach Budapest, dann über Frankreich, Kuba und Mexiko in die USA. Dort gelang es ihm nicht mehr, Fuß zu fassen. Freunde holten den an einer Psychose erkrankten 1956 nach Hamburg. Dort starb er im Glauben, er befinde sich noch in New York. Die Emigration, die restaurativen 50er Jahre und die Mega-Musicals der 80er Jahre verschütteten die Erinnerung an seine spezifische Erfindung, die „Jazz-Operette“.
Gießener Teamwork
Von „Viktoria und ihr Husar“ haben nun die Abraham-Experten Henning Hagedorn und Matthias Grimminger anhand der wenigen erhaltenen Quellen (Notenmaterial, Kritiken, Tonaufnahmen) eine neue Partitur erstellt. Für deren Realisation wurde dann noch eine ganze Reihe wissenschaftlicher und praktischer Berater zu Rate gezogen: Die Berliner Musikwissenschaftlerin und Autorin Karin Meesmann, der Leiter des Amsterdamer Operetta Research Centers Kevin Clarke, der Münchener Theaterwissenschaftler Stephan Frey, der Berliner Schelllack-Platten-Sammler Raoul Konezni, der Frankfurter Jazz-Klarinettist und Bandleader Reimer von Essen, der britische Schlagzeuger und Bandleader Trevor Richards sowie der deutschen Jazz-Pianist und -Sänger Jan Luley. Viele Köche verderben den Brei, könnte man meinen. Doch was man in Gießen, wo der operetten-erfahrene Erste Kapellmeister Florian Ziemen am Pult steht, aus dem Orchestergraben hört, klingt stringent, plausibel – und aufregend.
Wie bei der Uraufführung sitzen neben den klassisch ausgebildeten auch einige Jazzmusiker im Orchester. Banjo, Sousaphon und zwei Klaviere ergänzen das Instrumentarium. Abraham ließ für den Dirigenten eine Zentralpartitur anfertigen, in der Holzbläser, Blechbläser und Streicher jeweils einen kompletten Orchestersatz ausmachten, der genau so gut einzeln wie in Kopplungen gespielt werden konnte. Für lyrische Nummern konzipierte Abraham ein durchlaufendes Violinsolo als Gegenstimme. Wer an welcher Stelle spielte, wurde in den Proben festgelegt oder spontan durch Zeichen des Dirigenten angegeben. Der Dirigent konnte auch Soli und Soloimprovisationen anzeigen. Was Florian Ziemen und das erweiterte Philharmonische Orchester Gießen daraus machen, wirkt sehr authentisch und überaus lebendig.
Wie am Stadttheater Gießen üblich, hat man auch in diesem Fall nicht nur die Musik, sondern die komplette Aufführung als Herausforderung begriffen. „Mit den Sängern haben wir die pointierte Artikulation, die grotesk alberne oder sinnlich sentimentale Darstellungsweise, die Ironie und die lustvolle Improvisation der damaligen Operettendarsteller gesucht, um unsere musikalischen Mittel damit zu erweitern“, gibt Ziemen im Programmheft zu Protokoll. Und man folgt auch der Haustradition, das eigene Ensemble durch passende Gäste von außerhalb zu ergänzen und mit allen so zu arbeiten, dass sängerischer und darstellerischer Ausdruck zu einer Einheit kommen und jeder Mitwirkende das ihm bestmögliche authentische Ergebnis erzielt. In einem kleinen Theater wie Gießen scheint das viel leichter möglich als in den schwerfälligen Apparaten größerer Häuser.
Die frische Gießener Inszenierung von „Viktor und ihr Hauser“ ist dazu noch ein besonderes Kunststück. Sie stammt von Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, beide aus Ungarn stammend, die als Team für Regie und Ausstattung verantwortlich zeichnen – keine leichte Aufgabe, denn diese Operette steckt voller Klischees, will aber dennoch eine ernsthafte Geschichte erzählen. Szemerédy und Parditka nehmen die Kern-Handlung ernst, die Klischees auf Korn – und die Gelegenheit wahr zu manchmal grimmigen historischen und aktuellen Anmerkungen. Und obwohl es den Anschein hat, als folge das Bühnengeschehen dem Prinzip der freien Assoziation – inspiriert von den improvisatorischen Freiheiten der Musik –, wird doch am Ende ein stabiles Grundgerüst sichtbar. In den Choreographien, die Gießens Ballettchef Tarek Assam und sein langjähriger Koblenzer Kollege Anthony Taylor konzipiert haben, scheint auch Platz für Spontaneität – was um so organischer wirkt, als sich Tanzcompagnie, Chor und Statisten immer wieder unauffällig vermischen.
Unterhaltsame und spannende Studie
Während Volker Klotz in seinem bahnbrechenden Operetten-Buch an „Viktoria und ihr Husar“ die mondän-weltläufige Atmosphäre kritisiert und den musikalischen Exotismen jegliche dramatische Sprengkraft abspricht, macht das Gießener Regieteam aus dem Stück eine ebenso unterhaltsame wie spannende Studie über Heimatverlust, Heimatliebe und Heimatkult im 20. Jahrhundert – mit historischen Landkarten auf der Bühnenhinterwand und dem Bühnenboden. Im Vorspiel erleben wir den ungarischen Husarenrittmeister Stefan Koltay (Hauke Möller) und seinen Burschen Janczi (Tomi Wendt) in sowjetrussischer Gefangenschaft nach Ende des 1. Weltkriegs. Beide träumen von Ungarn und der gemeinsamen Heimatstadt Doroszma, Koltay von seiner Braut Viktoria, Janczi mit seiner Geige von seiner erfolgreichen Zeit als Zigeunerprimas. Kurz darauf werden sie verhört, Koltay bekommt einen Fausthieb ans Auge, dann werden beide wie ihre Mitgefangenen erschossen und bleiben liegen.
Erst im Vorlauf des ersten Aktes werden sie sich wieder taumelnd erheben, davongekommen mit dem sprichwörtlichen blauen Auge. Die Erschießung kommt wie ein Schock, aber sie gibt zu denken. Oft genug war sie im blutigen 20. Jahrhunderts der Normalfall; oft genug mochte das Überleben einer aberwitzigen Operettenlogik folgen; und schließlich ist es in der Operette die Falschmeldung vom Tod der beiden, die Koltays Braut Viktoria nach langem Warten veranlasst, dem Werben eines anderen stattzugeben – eine für das 20. Jahrhundert nicht untypische Erfahrung von Kriegsheimkehrern.
Diesen anderen treffen wir in dem amerikanischen Gesandten John Cunlight (Calin-Valentin Cozma), der im 1. Akt gerade mit Viktoria (Maria Chulkova) seinen Abschied von Tokyo feiert. Im Rahmen dieser Feier wird auch die Hochzeit von Viktorias Bruder Ferry (Dan Chamandy) mit der munteren Japanerin O Lia San (Naroa Intxausti) begangen. Genau in diese Situation platzen Koltay und Janczi, die sich aus Russland nach Japan absetzen konnten und auf der Flucht vor sowjetischen Agenten sind. Janczi bandelt Viktorias Zofe Riquette (Anna Gütter) an; zusammen mit Ferry / O Lia San gibt es damit gleich zwei komische Paare in alter Operettentradition. Benommen nimmt indessen Koltay seine Geliebte als Cunlights Ehefrau wahr. Doch wird der US-Amerikaner seine schützende Hand über ihn halten und ihn mit dem Gesandtschaftspersonal mitnehmen in seine neue Dienststelle – nach St. Petersburg, also in die „Höhle des Löwen“.
Das mondäne Szenario erinnert an Léhars „Lustige Witwe“ und „Land des Lächelns“; die Musik japanisiert kräftig, Die Operettenklischees werden kräftig strapaziert, aber zugleich mehrfach ironisiert. Augenzwinkernd serviert das Personal die obligaten Tanzfiguren, die komischen Paare agieren sichtlich überdreht. O Lia San legt sich zu ihrem Gebet an den Liebesgott in die offene Hand des amerikanischen Filmmonsters King Kong. Und an der Vorderbühne links und rechts vollzieht sich das Leben einer normal unglücklichen ungarischen Familie, um deren innere Harmonie es weitaus schlechter bestellt ist als um ihren Patriotismus. In einem Stimmungstief stellt Piroska (Marie-Louise Gutteck aus dem Schauspielensemble), die resolut-komische Hausfrau, das Radio an: Es erklingt Musik aus der Operette „Viktoria und ihr Husar“.
Später unterbricht Piroska sogar die Bühnenhandlung und hält einen Vortrag über Ungarn, das Ungarische und die richtige Art, ungarisch zu sein, und lässt gar einen Film mit fingierten Interviews mit Gießener Passanten über Ungarn zeigen. Danach gibt es ein Schweineballett; zwei der Schweine werden gefangen; und in einem von der Decke schwebenden Riesenkessel, rührt Piroska ein Gulasch zusammen. Aus dem entsteigt dann das glückliche Hochzeitspaar Ferry / O Lia San in travestierter Kleidung. Im dritten Akt wird sich Piroska als Viktorias Mutter entpuppen, der oft angetrunkene Ehemann Béla Pörkölty (Rainer Hustedt) als ihr Vater und Bürger-meister von Doroszma, und der heranwachsende Miki (Sebastian Songin) als ihr jüngster Bruder. Diese familiäre Verknüpfung widerspricht dem Textbuch der beiden Operettenroutiniers Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda. Doch am fortlaufenden Austausch der Bildporträts in der Küche der Pörköltys sieht man, dass das Regieteam einen Zeitraffer eingebaut hat, der von Adelstiteln und operettentypischem K und K.-Nimbus nichts mehr übrig lässt. Zuerst hängt Miklós Horthy, „Reichsverweser“ von 1920 bis 1944, über dem Herd, später auch Hitler und Stalin, dann Victor Orbán, und am Ende – Symbol rückwärtsgewandter Sehnsüchte – wieder Admiral Horthy.
Der 2. Akt spielt zur Zeit des Kalten Krieges. Im winterlichen St. Petersburg / Leningrad, in dem pelzbemützte Soldaten die durch eine Schranke symbolisierte amerikanische Gesandtschaft bewachen, feiern die US-Amerikaner vergnügte Kostümparties. Wirkungsvoll kontrastiert Abraham hier kraftvollen Jazz und russische Operetten-Schwermut. Die russische Seite erhält einen Tipp, wo sich der entflohene Husar Koltay aufhält, und verlangt seine Auslieferung. In einer Aussprache bekennt sich Viktoria – unverschuldet in Gewissensnöten – zu ihrem angetrauten Ehemann. Prägnant kontrastiert Abraham Koltays ungarischen Csárdás „Nur ein Mädel gibt es auf der Welt“ mit dem weltläufig-schmeichelnden Walzer „Pardon, Madame“, in dem sich Cunlight an die entscheidende Begegnung in Wien erinnert. Nach wehmütigem Lebewohl („Reich mir zum Abschied“) stellt sich Koltay der russischen Wache, nicht ohne den zornigen Ausruf „Ich habe keine Heimat mehr!“.
Der 3. Akt, laut Libretto ein Jahr später, führt zurück nach Doroszma. Alle Protagonisten sind zurückgekehrt. Viktoria, blass und schön und gar nicht mehr mondän, stellt sich an den altvertrauten Herd. Ungarische Farben und Flaggen versuchen einen Trümmerhaufen im Hintergrund vergessen zu machen. Es ist Winzerfest im Ungarn des Victor Orbán, und nach altem Brauch sollen drei Hochzeitspaare präsentiert werden: Janczi, der den Zigeunerprimas gar nicht mehr hervorkehren mag, und Riquette sind zur Stelle, und auch Ferry und O Lio San, die die Trauung nach ungarischem Recht wiederholen sollen. Piroska spart nicht mit Seitenhieben auf die japanische Schwiegertochter, schwingt patriotische Reden und preist ungarische Bräuche und Symbole. Die „Drei“ als ungarische Zahl kommentiert der inzwischen erwachsene Miki zornig mit: „Ja: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rechtssicherheit!“. In schwarzen Uniformen zieht die stramme ungarische Garde auf, schlägt Janczi zusammen und zertritt seine Geige. Wenig später prügeln auch die Dorfbewohner aufeinander ein. Doch dann raufen sie sich zusammen – es ist ja Winzerfest!
Cunlight erscheint, um seine Frau zurückzugewinnen. Auch er kann Geige spielen und hat ein kleines ungarisches Ständchen einstudiert. Koltay trifft rechtzeitig ein, um seinerseits noch einmal um die Geliebte zu werben. Während O Lia San beim alten Hochzeitsritual ihrem unsoliden Ferry den Wein ins Gesicht kippt, sucht Viktoria vorsichtig die Hand ihres Husaren. Da verschenkt der US-Diplomat seine Geige an Janczi, der sich schleunigst aus dem Staub macht, und setzt sich mit dem zaghaft glücklichen Paar an den Küchentisch bei Pörköltys. Miki hat den Schauplatz inzwischen schon zornig verlassen: „Ich habe keine Heimat mehr.“
Paul Abraham aber, überall und nirgends mehr daheim, ist wenigstens im 21. Jahrhundert angekommen.
„Viktoria und ihr Husar“ bleiben bis zum 15.3. auf dem Gießener Spielplan.