Wien, 25. Jänner 2013. – Wie lässt sich angemessen gedenken? Die Beantwortung dieser Frage dürfte nicht viel schwieriger sein als die Quadratur des Kreises. Zu dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27.1. hat sich das österreichische Bundesparlament eine Oper bestellt. Ausgerechnet eine Oper! – Aber, auf den zweiten Blick betrachtet: warum nicht?
Die Auftragsarbeit des Linzer Komponisten Peter Androsch nahm die Ermordung hunderter behinderter Kinder auf der Baumgartner Höhe in Wien in den Jahren 1940–44 zum Anlass, um die für die Nachgeborenen schwer nachvollziehbare Gräuel in Erinnerung zu rufen – gestützt auf Gesang und Kammermusik. Androsch sollte und wollte das „spiegeln“ und kommentieren, was vor siebzig Jahren im „Spiegelgrund“ aus dem Geist der „Rassenhygiene“ mit bürokratischer Perfektion organisiert worden war.
Eine Stunde lang diente die Tribüne des Prunksaals im Wiener Bundesparlamentsgebäude am Karl Renner-Ring nicht der Politik und ihrer Selbstrepräsentation, sondern der Erinnerung an ein Desaster der Politik und eine menschliche Katastrophe. Dass sich die meisten Österreicher mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit schwer taten und viele fortdauernd Mangelerscheinungen hinsichtlich der Wahrnehmung der Erbschaft jener Zeit an den Tag legen, gehört nicht nur zu den gelegentlichen Erfahrungen der Touristen. Nach wie vor und neuerlich gibt es nicht wenige in der Alpenrepublik, die dieses „leidige“ Thema am liebsten für immer abgeschlossen wissen möchten. Aber wie anderswo ist dies auch hier nicht möglich – und in europäischen Kontexten ohnedies nicht. Dieser Hintergrund erläutert, warum das österreichische Parlament mit dem Erinnerungsstück von Peter Androsch ein Signal setzen wollte und will.
Die Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, zu Beginn des 20. Jahrhunderts als modernste und größte psychiatrische Institution am Stadtrand von Wien ins Leben gerufen, wurde nach 1938 rasch zu einem Zentrum nationalsozialistischer Vernichtungsmedizin umfunktioniert (profilierte sich u.a. auch auf dem Gebiet der Zwangssterilisation). Durch gezielte Tötung, Folter, Mangelernährung und planmäßige Vernachlässigung wurden fast 8.000 Menschen umgebracht. Unter dem Namen „Am Spiegelgrund“ existierte auf dem Gelände eine „Fachabteilung“, der von 1940 bis 44 mindestens 789 Kinder- und Jugendliche zum Opfer fielen: Ihre Gehirne wurden zu Forschungszwecken ausgebeint, zerlegt und als Demonstrationsobjekte in Konservierungsmittel eingelegt (nach Intervention einer „Arbeitsgemeinschaft kritische Medizin“ ließen die zuständigen Behörden die Leichenteile im Februar 2002 bzw. Mai 2010 bestatten).
Erinnerung muss und sollte also stattfinden – und künstlerische Mittel können durchaus geeignet sein, das Nachdenken entschiedener zu fördern als das argumentative Wort (das eigentlich im parlamentarischen Raum einen gewissen Vorrang genießen sollte). Die rhetorischen und musikalischen Mittel, die Peter Androsch bei seiner in einen staatlichen Rahmen eingebundenen Gedenkarbeit zum Einsatz brachte, waren in programmatischer Absicht einfach und klar zugeschnitten. Sie scheuten das Herbeizitieren von musikalischen Archaismen nicht, bedienen ausgiebig schlichte Lineaturen von Sologesang und immer wieder kurze, neoklassizistisch anmutende Streichereinwürfe; in Kombination erinnerten sie an Radio-Produktionen der 60er und 70er Jahre mit pädagogischen Einschlägen.
Freilich unterlief die Produktion das allzu stimmungsmäßige „Einfangen“ von Betroffenheit durch die protokollarisch sachlich gehaltenen Textfragmente und eine in theatraler Hinsicht völlig zurückgenommene Art der Präsentation – ein paar Spruchbänder sollten als Dekoration genügen. Auch dreieinhalb Stimmakteure – ein Sprecher, ein Bass und zwei Sängerinnen (davon eine mit sehr kleiner Partie), die auf der Regierungsbank und den Plätzen der Parlamentspräsiden agierten, korrespondierten mit dem kleinen Format. Unter den Darstellern: die Flötistin, das Streichquintett und der Perkussionist – das Ensemble 09, das Thomas Kerbl vom Cembalo aus leitete.
Alle zusammen präsentierten eine – offensichtlich gerade auch von jugendlichem Publikum – mit großer Aufmerksamkeit und hörbarer „Ergriffenheit“ aufgenommene Produktion. Gattungsmäßig wäre sie wohl dem Genre der Kammeroper zuzurechnen. „Es ist eigentlich ein Opern-Oratorium“, meinte der Komponist, wobei das oratorische Moment „noch verstärkt werde, weil ja hier im Parlamentssaal keine Spielhandlung inszeniert werden kann.“ Und es treffe tatsächlich zu, dass ihn in den 70er Jahren Hörspiele und Radio-Features „sehr beeinflusst“ hätten. Dann auch die Schule Olivier Messiaens. Zusammen ist es diese Welt, in der ich mich gerne bewege“.
Die von Peter Androsch konzipierte „innere Handlung“ nahm vor den ans klassisch antike Athen erinnernden Säulen, Giebeln und Koryphäen Bezug auf Sparta (und verweist damit darauf, dass der Reichskanzler Hitler dem spartanischen Modell nacheifern wollte). Das Drei-Personen-Stück entwickelte seine musikalischen Klangfarben zu den Farben der Kinderleichen – rot, grün, blau – und versöhnte mit Kinderlied-Zitaten. Ob diese Mixtur heute kompositorisch auf der Höhe der Zeit ist, mag dahingestellt bleiben. Die funktional konzipierte Musik hat ihre gutgemeinte Funktion erfüllt.
Das „Spiegelgrund“-Projekt, das von der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz mit getragen wird, wandert nach den Vorstellungen im Wiener Parlament an deren Standort.