Wie ein Phantom geisterte Kurt Weills Musical „Lady in the Dark“ durch die Diskussion um den Komponisten. Der Weill-Kenner David Drew sah 1975 hinter dem „unheimlich gefärbten Zerrspiegel“ von „Lady in the Dark“ einen selbstzerstörerischen Verdrängungsmechanismus am Werk. Überprüfen konnte man das in Deutschland kaum. Das Stück kam hier in 60 Jahren gerade zweimal auf die Bühne. Nun aber steht es – aller guten Dinge sind drei – in Hannover auf dem Opernspielplan.
Schon Elliott Carter, heute mit 103 Jahren der Nestor unter den US-amerikanischen Kompo-nisten, spielte 1943 den „amerikanischen Weill“ gegen den „deutschen“ aus: Seine „soziale Szene“ sei mit den erfolgreichen Broadway-Musicals „Lady in the Dark“ und „One Touch of Venus“ New York in New York „zum Schlafzimmer geschrumpft.“ Davon kann aber bei der „Lady“ nicht die Rede sein. Immer noch frappiert es, wenn – partiturgetreu – ein Musical mit einer reinen Sprechszene beginnt - und diese dann auch noch in der Praxis eines Psychologen abläuft. Je länger die Aufführung dauert, um so eher entsteht der Eindruck, dass Weill seiner Zeit voraus war. Die Hannoveraner Dramaturgie bringt es auf den Punkt: Was Weill und seine Librettisten Moss Hart (für die Handlung) und Ira Gershwin (für die Songtexte) auf die Bühne brachten, bevor es den Begriff dafür überhaupt gab, ist eigentlich ein klassischer Fall von Burn-Out.
Liza Eliott, die erfolgreiche Herausgeberin eines Modemagazins, hat in der Redaktionssitzung dem provozierenden Redaktionsfotografen einen Briefbeschwerer an den Kopf geworfen und ist seitdem völlig außer Fassung. Als dann ihr besorgter langjähriger Liebhaber ihr mitteilt, seine Frau habe nun endlich in die Scheidung eingewilligt, und parallel ein zu Fotozwecken anwesender Filmstar sie zu umwerben beginnt, ist sie nicht einmal mehr in der Lage, über das Titelbild der nächsten Ausgabe zu entscheiden. Ähnlich wie in Tom Hoopers Film „The King’s Speech“ von 2010 erlebt der Zuschauer nun den Wechsel von Alltagsszenen mit therapeutischen Sitzungen, bei denen tieferliegende persönliche Probleme zutage treten. Liza Elliott hat sich dem Psychoanalytiker Dr. Brooks anvertraut , und der kommt einer verdräng-ten Kindheitserinnerung auf die Spur.
Dass diese Kindheitserinnerung mit einem Kinderlied „My Ship“ zusammenhängt, das der Klientin anfangs nur bruchstückhaft in Erinnerung ist und sich erst im Lauf der Therapie wie-derherstellt, zeugt von der dramaturgischen Sorgfalt, mit der die Autoren den Einsatz der Musik kalkulierten. Es ist, als wolle Weill der Opernästhetik seines verehrten Kompositionslehrers Ferruccio Busoni folgen, der den Einsatz von Musik auf der Bühne nur bei Liedern, Tänzen und dem Eintritt des Übernatürlichen gerechtfertigt sah. Nur dass in diesem Fall das Übernatürliche von der Traumwelt des Unbewussten repräsentiert wird. Die drei Träume, die Liza Elliott ihrem Analytiker berichtet, sind sämtlich als geschlossene musikalische Szenen komponiert, in denen sich heterogene Stile, Bilder und Dialoge zu einer ebenso skurrilen wie aufschlussreichen Mixtur verdichten.
Dass die Staatsoper Hannover nicht über drei Drehbühnen verfügt wie seinerzeit das Alvin Theatre in New York, erweist sich dabei sogar als Vorteil. Während sich Liza auf die Couch legt, quellen die inneren Bilder hinter und neben ihr hervor. Wie Regisseur Matthias Davids, Bühnenbildner Heinz Hauser und die (für die aussagekräftigen Videosequenzen zuständigen) Filmtechniker Max Friedrich und Daniel Wolff diese Szenen in eine fast albtraumhafte Verdichtung steigern, ist große Bühnenkunst. Es entsteht ein Sog, der auch die Schwächen der Produktion vergessen macht. Denn die Verständlichkeit der Gesangstexte lässt besonders beim (darstellerisch überzeugenden) Opernchor zu wünschen übrig. Und vor allem zu Beginn achtet Mark Rohde am Dirigentenpult zu wenig auf Präzision und Klangbalance; das Blech ist oft zu laut, und der Klang diskantlastig. Das Ensemble insgesamt aber präsentiert sich leistungsstark und typengerecht. Die Titelrolle ist mit Winnie Böwe ausgezeichnet besetzt. So wie der Bühnenvorhang ein in eine weiße und eine schwarze Hälfte gespaltenes Frauengesicht zeigt, so muss auch sie zwei völlig verschiedene Seiten ein und derselben Person ausspielen: Das attraktive rothaarige Glamour Girl in den Traumszenen, die disziplinierte kühle Blonde im Arbeitsleben, in Freudscher Terminologie das Es und Über-Ich. Dass sich diese beiden Hälften wieder zu einer stabilen Ich-Identität zusammenfinden, versteht Winnie Böwe überzeugend zu verkörpern.
Weill geht hier über seinen frühen, symbolistisch geprägten Einakter „Royal Palace“ auf ein Libretto von Yvan Goll hinaus. Auch dort steht die weibliche Hauptfigur zwischen drei Männern. Doch während sie dort einem tief liegenden Todeswunsch folgend vor allen dreien ins Wasser flieht, kehrt Liza Elliott wieder in Alltag und Beruf zurück und entscheidet sich für ihren Fotografen. Dem tut sein Macho-Gehabe inzwischen leid, nachdem er sich mit Lizas bester Freundin ausgesprochen hat. Die neue deutsche Textfassung von Roman Hinze scheint, soweit sie zu verstehen ist, sehr geglückt. Sie wirkt überhaupt nicht verstaubt, aber es gibt kaum eine Pointe, die man nicht so oder so ähnlich im englischen Textbuch wiederfinden kann.
Unverkennbar sind Weills musikalisch und dramaturgische Anknüpfungen an seine kompositorische Vergangenheit. Die dritte Traumsequenz, der „Circus Dream“ beginnt mit einer polternden Melodie, die in der Operette „Der Kuhhandel“ von 1935 mit dem bezeichnenden Text „Ich bin der starke Mann, der was er will, auch kann“ unterlegt war: eine Ironie, die nur Insider verstehen konnten, denn die Operette war nach der Londoner Uraufführung rasch von der Bühne verschwunden. Schroffe, fast gehämmerte Holzbläserpassagen knüpfen an Weills Opernstil der frühen 1930er Jahre an. Die parodistische Gerichtsszene erinnert intensiv an diejenige in der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, und Lizas Song „The Saga of Jenny“ mutet an wie eine Verbindung der „Seeräuber-Jenny“ aus der „Dreigroschenoper“ mit dem „Lied von der Unzulänglichkeit“. Wie hier David Drew 1975 von Verdrängung sprechen konnte, lässt eher auf Vorurteile als auf Analyse schließen.
Vielleicht brauchte es aber in Europa tatsächlich noch einmal 36 Jahre, um dieses Stück zu verstehen. Den Sound des Broadway erfassen wir nun ebenso gut wie den Klang des Epischen Theaters aus den 20er Jahren,. Wir kennen die Leinwandstars aus Hollywood und den Rummel des Mediengeschäfts. Die rasante Beschleunigung von Berufsalltag und Freizeit ist bei uns angekommen, wir wissen, was ein „Workaholic“ und was ein „Burn-Out“ ist. Die Gesellschaft hat keine Angst mehr vor dem Psychologen, sie ist durch Feminismus und Frauenquote gegangen, hat etliche Staffeln von „Germany’s Next Top Model“ erlebt und sieht inzwischen die Männer in der Krise. Da kommt nun „Lady in the Dark“, verblüffenderweise, gerade recht.
Weitere Termine: 11.12., 14.12., 31.12., 13.01., 20.01