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Enno Poppes Oper „IQ“ in Schwetzingen. Foto: SWR
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Im Niemandsland des vernünftigen Sinns: Uraufführung von Marcel Bayers und Enno Poppes Oper „IQ“ bei den Schwetzinger Festspielen

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Man war wieder wer und wollte es zeigen: 1952 wurde im Nordbadischen der Seitenflügel eines verwaisten Residenzschlosses der Pfälzer Kurfürsten neuerlich in Betrieb genommen – im Herzen des US-amerikanischen Besatzungsgebiets und ganz offensichtlich wenigstens ein bisschen im Zuge der kulturellen Mobilmachung, die der mit voller Wucht ausbrechende „Kalte Krieg“ mit sich brachte. Seitdem steuert der Süddeutsche Rundfunk bzw. der SWR als dessen fusionsbedingter Erbe das kleine Festival auf halbem Weg zwischen Mannheim und Heidelberg.

Der aus Tailfingen (Württemberg) stammende Autor Marcel Beyer spürt seit langem den Konditionierungs­-Prozeduren nach, die den modernen Menschen zugemutet werden. Dieses Mal hat der Romancier sich dem vor hundert Jahren entwickelten Verfahren zur Messung des Intelligenzquotienten (IQ) zugewandt. Aus den Erwägungen und Reflexionen der mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Testveranstalter wie aus den von Bayer protokollierten (bzw. unterstellten) Reaktionen von „Testpersonen“ wurde ein Opernlibretto destilliert. Enno Poppe, 1965 in Hemer (Sauerland) geboren, hat neue Musik hinzugesellt – durchaus gestützt auch auf mathematisches Kalkül. Und mit gewissen sozialen Konsequenzen: Mit der Arbeit Poppes, der die Uraufführung auch selbst dirigierte, mutieren die Instrumentalisten des Klangforums Wien (wie auch das Publikum) zu integralen Bestandteilen eines hermetischen Versuchssystems. Anna Viebrock sorgte für die Ausstattung und Inszenierung, konnte sich bei den Video-Zuspielungen auf eine Kooperation mit dem ZKM Karlsruhe stützen. Das Projekt, mit dem die 60. Schwetzinger Festspiele eröffnet wurden, erscheint insgesamt als Beleg für die generell gegebene, aber selten eingelöste Verheißung der Festivals: Dass sie Besonderes bieten und zuvorderst Projekte, die im „Normal“-Betrieb so nicht möglich wären.

Im Rokokotheater haben Bayer, Viebrock und Poppe nun im unmittelbaren Sinn des Wortes experimentelles Musiktheater auf die Bühne gebracht – sie erinnerten an eine Versuchsanordnung aus den frühen Jahren der Psychologie, die sich als Wissenschaftsdisziplin im Vorfeld des ersten Weltkriegs und während der Kriegsjahre herausbildete. Sie haben die um 1912 entwickelten psychologischen Verfahren zur Intelligenzmessung auf die späten 80er oder die frühen 90er Jahre projiziert; die Büromöbel, die offen herum liegenden Kabelstränge und Monitoren, die Anna Viebrocks Bühneninstallation herbeizitiert, rufen diese Phase der neueren Geschichte nochmals wach.

Man kommt. Ein gutes Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts findet sich auf der Bühne ein. Die Leute sehen sich wartend um. Die meisten von ihnen ziehen dann weiter in den kleinen Orchestergraben, wo sie auf die im Wesentlichen gewohnte Weise an der Aufführung mitwirken (nämlich „ihre“ Instrumente traktieren). Die Mitglieder des Klangforums Wien stellen die meisten Probanden, die in den folgenden acht Akten mit ansteigender Ausdauer den Befragungen unterzogen und getestet werden. Die Musiker kommen also unten wie oben zum Einsatz – als Instrumentalisten mit Sprechzulage und Darsteller zugleich, gleichsam als repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung. Indem ihnen scheinbar die Sonderrolle der Spezialisten genommen wird, qualifizieren sie sich in besonderer Weise als Spezialisten für Neues Musiktheater.

Marcel Bayer hat einen ziemlich hinterhältigen Text entwickelt. Der führt die Rituale des Testens und die Täter/Opfer-Relationen der offensichtlichen Zumutungen wie selbstverständlich vor, auch das weitgehende Einverständnis der dem Experiment Unterworfenen. Bei denen kristallisieren sich Selbstbewusste und Eingeschüchterte heraus, Test-Routiniers und Prüfungsangsthasen. Es geht in ein Niemandsland des praktisch-vernünftigen Sinns: Bayers Arbeit entzaubert die „Wissenschaftlichkeit“ der vorgeführten Testverfahren ebenso wie die Sprache, mit der Manipulationszusammenhänge verkleistert werden – mit Sprüchen wie: „Schwierige Tests bringen Menschen einander nahe“.

Die Produktion zieht aufmerksame ZuschauerInnen wie zwangsläufig in ihren Bann. Sie sind gehalten, über Termini wie „Intelligenzbestie“ nachzudenken, und ertappen sich immer wieder dabei, dass sie die von den Testerinnen gestellten Aufgaben auch rasch im Kopf zu lösen suchen. Mit Rosemary Hardy tritt eine Versuchsleiterin in Aktion, die – ganz im Sinn der Produktion – bemerkenswerte Kälte im Dienst an der Sache ausstrahlt, der sie sich verschrieben hat, stellt am Ende aber auch Trost bereits für die, denen kein besonders hoher IQ zugemessen wird: Es gäbe ja schließlich auch „testferne Begabung“. Katja Holm präsentiert sich neben ihrer Vorgesetzten als Testerin, die das Anmaßende wie das Verklemmte der spezialisierten Psychologin mit delikater Akkuratesse vorführt. Sie bringt den Glücksanspruch ihrer Arbeit auf die Formel: ihr seien die „Tage am Testgenerator doch die allerliebsten Tage“.

Enno Poppes genau fixierte kleingliedrige, stark sprachgeprägte Kammermusik eignet sich mit ihren vielen feinen Intonationsschwebungen und „Zwischentönen“ als ungemütlicher Kontrast des permanent um „Vertrauensbildung“ bemühten Bühnengeschehens nicht schlecht. Noch besser freilich (und womöglich auch für ein sehr viel größeres Publikum) könnte das Projekt funktionieren, wenn die Dialoge und Monologe gesprochen würden und die Musik wie beim Melodram (oder bei Kinomusik) nur als Folie und Rahmen hinzuträte – um sich dann doch immer wieder einmal auch auf der Bühne aktiv einzumischen, also unmittelbar theatral zu werden. Sie wird dies z.B. bei der Gehörbildungsprobe, bei der die Delinquenten Töne nachspielen müssen, die ihnen vorgespielt werden. Als bleibende Gewissheit nehmen die ZuschauerInnen jedenfalls mit nach Hause, dass der Erfolg bei dieser Folgsamkeitsübung eines der „wissenschaftlich“ klar bemessbaren Kriterien von Intelligenz ist – für eine Wissenschaft, die im strengen Sinn keine ist. Sondern Ideologie.

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