Die Internationale Orgelwoche Nürnberg – Musica Sacra, kurz ION genannt, ist das wohl größte und älteste Festival Geistlicher Musik in Europa, wenn nicht sogar weltweit. Vom 4. bis 13. Juni 2010 widmet sich ein künstlerisch-spiritueller Schmelztiegel der ewigen Frage nach dem Sinn des Seins: 20 Veranstaltungen und ein umfangreiches Rahmenangebot machen das Motto der 59. Spielzeit „Vita et Mors - Mors et Vita“ zum Programm.
Mit dem diesjährigen Composer in Residence setzt die ION einem der bedeutendsten russischen Komponisten der Gegenwart ein Denkmal: Rodion Schtschedrin (*1932). „Der versiegelte Engel“, eines seiner wichtigsten Werke, eröffnet am 4. Juni in der Kirche St. Lorenz das Festival und stimmt auf den mit Hochspannung erwarteten Folgetag ein: Im Auftrag der 59. ION hat Rodion Schtschedrin sein „Dies Irae“ komponiert. Am 5. Juni erlebt das Werk für drei Orgeln und drei Trompeten nach Albrecht Dürers Holzschnitten „Die Apokalypse“ in St. Lorenz seine Uraufführung.
Uraufführungen spielen seit jeher eine große Rolle bei der ION. So bieten auch hochkarätig besetzte Abendkonzerte in verschiedenen Kirchen Nürnbergs gleich mehrere Weltpremieren: Am 6. Juni wird „das was geschah/that which happened“ der israelisch-amerikanischen Komponistin Shulamit Ran in St. Sebald musikalisch aus der Taufe gehoben. Am 9. Juni steht die abendfüllende Uraufführung des „Te Deum“ des Franzosen Dominique Jourbert auf dem Programm. Eine weitere Uraufführung mit renommierter Besetzung wird am 11. Juni in St. Sebald gefeiert: „Der Seele Ruh“ von Roland Kunz. Das Oratorium nach Worten des Mystikers Meister Eckhart zu Ehren dessen 750. Geburtstags ist ein Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks – Studio Franken. Roland Kunz hat das Werk nicht nur komponiert, sondern steht auch – gemeinsam mit seinem Sängerkollegen Andreas Scholl – als Countertenor auf der Bühne. Begleitet werden sie vom Ensemble ´Orlando und die Unerlösten´, dem orpheus chor münchen sowie dem Münchner Rundfunkorchester unter Anu Tali. Einen weiteren Glanzpunkt markiert das Konzert der Nürnberger Philharmoniker am 10. Juni in St. Lorenz. Unter der Leitung von Christof Prick erklingen Liszts „Von der Wiege bis zum Grabe“ und „Totentanz“ sowie Strauss’ „Tod und Verklärung“. Solist des Abends ist Volker Banfield. Den krönenden Schlussakkord der Reihe setzt eines der weltbesten Klavierduos – Yaara Tal und Andreas Groethyusen mit Bachs Goldberg-Variationen am 12. Juni.
Die Mittagskonzerte ließen sich auch als „Forum Next Generation“ bezeichnen: Vom 7. bis 11. Juni präsentieren „Junge Preisträger internationaler Wettbewerbe“ an der Klais-Orgel der Nürnberger Frauenkirche ihr Können. Dabei setzen sie sich u. a. mit dem Komponistenjubilar Robert Schumann und Altmeister Johann Sebastian Bach auseinander, mit Max Reger und Dieterich Buxtehude – aber auch mit zeitgenössischen Komponisten wie Anton Heiller, dessen „Tanz-Toccata“ für die ION 1970 entstand. Die jungen Künstler sind in diesem Jahr Marcel A. Ober (Deutschland), Saki Aoki (Japan), Michael Unger (Kanada), David Franke (Deutschland) und Daria Burlak (Russland).
Mit einer Rarität verabschiedet sich die ION am 13. Juni – „Joram“ von Paul Ben-Haim (1897-1984). Vor der Uraufführung der Originalversion in München 2008 war das 1932/33 entstandene Oratorium nur ein einziges Mal stark gekürzt und in hebräischer Übersetzung in Jerusalem aufgeführt worden. In der Nürnberger Lorenzkirche leitet Hayko Siemens die Münchner Symphoniker, den Münchner Motettenchor und das Solistenensemble mit Corinna Ullrich, Bernd Valentin und Miklós Sebestyén – die bereits bei der höchst erfolgreichen Uraufführung in München mitgewirkt hatten.
Ergänzend zu allen Konzertveranstaltungen bietet die 59. ION ein facettenreiches Rahmenprogramm: Das höchst erfolgreiche Schulprojekt des Festivals geht ins nunmehr sechste Jahr, weiterhin locken Festgottesdienste, Vorträge und ausgewählte Filme des Kultregisseurs Ingmar Bergman.
Die Internationale Orgelwoche Nürnberg war bei ihrer Gründung 1951 einer der ersten kulturellen Lichtstrahlen in der vom Krieg noch weitgehend zerstörten Stadt. Die ION ist ein Podium der Zusammenarbeit und des Gedankenaustauschs zwischen Künstlern, Komponisten und Theologen aus allen Ländern Europas. Ihr Beitrag zum kulturellen Dialog der Konfessionen, Nationen und Kulturen ist heute aktueller denn je. Im Mittelpunkt steht traditionell die Orgelmusik – alljährlich verpflichtet das Festival renommierte Organisten aus aller Welt. Daneben versteht sich die ION seit jeher auch als ein Forum der zeitgenössischen Kirchenmusik. Davon legen mehr als 120 Ur- und Erstaufführungen in ihrem Programm Zeugnis ab. Regelmäßig erteilt die ION namhaften Komponisten Aufträge für neue Werke. Zu den Spielstätten 2010 gehören neben St. Sebald auch St. Lorenz (nach Abschluss eines großen Umbau- und Renovierungsprojekts mit drei Instrumenten die größte Orgelanlage in einer evangelischen Kirche in Deutschland), die Frauenkirche am Hauptmarkt, die Martinskirche und die Christuskirche. Weitere Veranstaltungsorte sind der Aufseßsaal im Germanischen Nationalmuseum und das Literaturhaus Nürnberg. In den Jahren 2009 bis 2012 ist Wilfried Hiller Künstlerischer Leiter der ION.