Die Tschechen sind ein eher kleines Volk. Dennoch haben sie eine höchst reichhaltige Musikkultur hervorgebracht. Diesen Sachverhalt rückt das Land europaweit ins Bewusstsein, indem es 2014 zum „Jahr der Tschechischen Musik“ erklärt hat. Tschechische Opern- und Konzerthäuser, Medien und Tourismusämter sitzen mit im Boot. Die künstlerische Schirmherrschaft haben Simon Rattle und seine Frau, die tschechische Mezzosopranistin Magdalena Kožená, übernommen.
Den roten Faden im Festjahr bilden rund sechzig Jahrestage, darunter von Dvořák, Smetana, Janáček und Martinů. Die Bandbreite der Jubiläumsfeiern reicht weiterhin vom Barockmeister Jan Dismas Zelenka bis zu dem Spätromantiker Josef Suk; von Verdis Sopranmuse Teresa Stolz bis zu dem Dirigenten Rafael Kubelík; vom Prager Sinfonieorchester bis zum Brünner Nationaltheater. Außerdem gehen zahlreiche tschechische Orchester, Dirigenten und Interpreten auf Auslandstournee. Den Abschluss bildet am 17. Dezember eine Gala mit internationalen Solisten und Mitgliedern tschechischer Profi-Orchester in Prag.
Auch die Festivals machen mit. Der „Prager Frühling“ hat einen Kammermusik-Schwerpunkt eingeführt. „Dvořákova Praha“ gräbt Mitte September Dvořáks deutschsprachige, kaum aufgeführte Jugendoper „Alfred“ aus. Zudem stehen mehrere Premieren zeitgenössischer Opern an. Das Mährisch-Schlesische Nationaltheater bringt „Labyrinth der Listen” von Martin Smolka heraus. Das Nationaltheater Brünn inszeniert „Alice im Bett“, eine Oper von Ivo Medek, dem Rektor der Brünner Janáček-Musikakademie. Im böhmischen Litomyšl läuft eine Kammeroper von Aleš Březina. Es geht darin um den Priester Josef Toufar, der 1950 von der tschechischen Staatssicherheit zutode gefoltert wurde. Dazu passt thematisch die Ausstellung „Musik und Politik“, die im Mai auf dem Prager Vítkov Hügel eröffnet wurde.
Initiator des „Jahres der Tschechischen Musik“ ist das Kulturministerium. Organisiert wird die Reihe mit mehreren hundert Veranstaltungen vom Tschechischen Zentrum, das für die Kulturförderung im In- und Ausland zuständig ist. Es koordiniert europaweit Aktivitäten – auch eine Reihe deutscher Orchester und Opernhäuser haben sich eingeklinkt, indem sie tschechisches Repertoire aufführen.
Das „Jahr der Tschechischen Musik“ findet einmal pro Dekade statt und endet stets mit der Ziffer vier, da sich dann zufällig die Jubiläen mehrerer tschechischer Komponisten ballen. Anlass für den ersten Durchgang 1924 war der 100. Geburtstag Smetanas. Die Leitung übernahm damals Janáček, der dann selbst 1954 anlässlich seines 100. Geburtstages geehrt wurde.
Stets spiegelte die Veranstaltungsreihe die Zeitgeschichte wider. Das Jahr 1974 stand im Zeichen einer kulturpolitischen Entspannung nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen sechs Jahre zuvor. In den nachsozialistischen Wirren 1994 musste das Musikjahr ohne staatliche Unterstützung auskommen. Zehn Jahre später trat die Tschechische Republik ausgerechnet am 1. Mai, dem 100. Todestag Dvořáks, der EU bei.
Da sich gar nicht so leicht auf den Punkt bringen lässt, was „tschechische Musik“ eigentlich ist, wird das Festjahr auch von einem interdisziplinären Forschungsprojekt begleitet. „Eine genaue Definition ist für mich nicht so wichtig“, sagt Jiří Bělohlávek, Chef der Tschechischen Philharmonie. „Entscheidend ist, dass unsere Kunstmusik ihre Wurzeln in der Folklore hat.“ Der Dirigent und sein Orchester haben aus Anlass des Musikjahres ein Großprojekt gestemmt: Ende Juni erscheint bei Decca ihre Einspielung sämtlicher Sinfonien und Konzerte von Dvořák.