Der große Peloton, Klavier-Festival Ruhr genannt, in diesem Jahr auf großer Liszt-Tour. Eine Zwischenstation: Düsseldorf, Schumannsaal. Im Zentrum ein außerordentlicher Künstler, ein denkwürdiges Konzert. Und doch brauchte Marc-André Hamelin, der ganz allein für diese Sternstunde des Klavierspiels sorgte, nur zwei Zugaben zu geben. Wie das?
Nach Konzertschluss scheiden sich die Geister – und Klassen. In der Beletage des Düsseldorfer Kunstpalastes Sekt und Häppchen für die Sponsoren der „sms-group“ unterwegs im Nadelstreifen und auf Stöckelschuhen, unten in der Tiefparterre die Anhänger, Freunde und Kenner. Geduldig harrt man des abgekämpften Meisters, um sich sein Autogramm abzuholen. Enthusiasmierte, weit angereiste Musikfreunde bekennen freimütig, von nun an keinen anderen Klaviergott mehr neben diesem Teufelskerl von Hamelin zu dulden. Große, größte, allergrößte Namen, die noch gestern, so wird kolportiert, allein sechs (!) Zugaben erwirtschaftet hatten, sind abgemeldet. Auf dem Thron nun dieser untersetzte Frankokanadier mit dem schütteren Haupthaar, der nach seiner ganzen Statur, seinem Auftreten freilich gar nicht in diese Kaiser-Rolle passen will.
Nicht nur vor dem Klavier ist Marc-André Hamelin ein bescheiden auftretender und agierender Zeitgenosse. Die große Geste liegt ihm fern. Seine Haltung, gefasst, seine Bewegungen minimiert, ökonomisch sagt er selber dazu. Wie sonst sollte man auch einen zweistündigen Klavierabend (Haydn: Andante con variazioni f-moll; Mozart: a-moll KV 310; Liszt: Venezia e Napoli, Bénediction de Dieu dans la Solitude, Norma-Reminiszenzen nach Bellini) nicht nur durchstehen, sondern mit höchster Präzision gestalten können? Tatsächlich ist Hamelins Technik stupend. Sein Piano immer zart, sein Gespür für Dynamik ausgeprägt. Und sein Forte-Fortissimo kommt auch in den gewaltigen Liszt’schen Stretta-Passagen nie überfallartig, sondern resultierend aus Vorhergehendem. Wie die Woge, die von ganz allein bricht, wenn es Zeit ist. Was Schumann über Liszt gesagt hat: „In Sekundenfrist wechselt Zartes, Kühnes, Duftiges, Tolles: das Instrument glüht und sprüht unter seinem Meister“ gilt auch für ihn, für Hamelin. Und der ist glücklich. Vor allem über das Instrument, das tatsächlich alles, was er anstellt, mitmacht. „Kann man den Flügel kaufen?“ fragt er scherzhaft noch in der Pause.
Anders als die großen Selbstdarsteller im Peloton, die das Publikum verzücken und die Sponsoren anlocken wie frisch aufgestellte Milch die Fliegen, anders als die großen und kleinen Lang-Langs folgt dieser wahrhaft würdige Nachfolger Glenn Goulds nicht dem allfälligen „make Show“. Den Kennern, Freunden, Liebhabern der Klaviermusik, die an diesem Abend auch in Düsseldorf zahlreich vertreten sind, gefällt das natürlich. Wer von der Kunst, wer vom Werk her kommt und denkt, kann gar nicht anders als sich über den Willen zu freuen, eine begnadete Technik der Musik dienstbar zu machen. Ein Vorhaben, das freilich nicht überall auf Beifall stößt. Da ist der Sitznachbar im dunklen Zwirn zum Beispiel, dessen Körpersprache nun doch bald verrät, dass es jetzt ‚genug’ ist. Unpassend, ungelegen vor allem Hamelins Zugaben, zwei Eigenkompositionen aus seinem Moll-Etüden-Zyklus: eine in es-moll nach Tschaikowsky „Lullaby“ für die linke Hand allein, eine andere in g-moll, die Viertel „absolutely strict“ in aberwitzigen 160: Toccata groteska mit Beinamen, in die augenzwinkernd sogar ein Autohupen eingebaut ist. Ein herrlicher Spaß, womit Hamelin freilich auch daran erinnert, dass Pianist- und Komponistsein einmal eins waren und dass die Anbetung des Genius, selbst wenn er Liszt heißt, unbefriedigend bleibt. Als wir noch darüber nachsinnen, ob und wenn ja wie man der anstehenden Erneuerung unseres großen Klavierabends gegebenenfalls zuarbeiten könnte, ist der Nachbar von der sms-group Gieß- und Walztechnik schon auf und davon.