Starkstrom in der Oper, das bezieht sich in Wrocław nicht nur auf Orchesterklang, Stimmkraft und Emotionalität, sondern – wie soeben beim Festival Musica Electronica Nova zu erleben – auch auf pure Ton- und Bilderzeugung. Der frühe Pierre Boulez und der späte Karlheinz Stockhausen hätten ihre Freude gehabt. Das Publikum des Opernhauses Wrocław reagierte zwar überaus freundlich, schien aber doch ein wenig irritiert. Ein Stück wie „Ogród Marty“ („Marthas Garten“) von Cezary Duchnowski dürfte in diesem 1841 von Carl Ferdinand Langhans errichteten Theater noch nicht zu erleben gewesen sein.
Eine Gartenoper, aber kein Sommerstück: „Ogród Marty“ erklang 2006 zum ersten Mal beim Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig. Damals ist der elektronische Opernerstling des 1971 im masurischen Elblag geborenen Künstlers noch konzertant gegeben worden. Als „Opera-Performance“ lud man es 2009 zum Warschauer Herbst. Nun ist die Kammeroper für das Festival Musica Electronica Nova (13.-21. Mai 2011) ein wenig mehr in Szene gesetzt worden und öffnete dem Veranstalter, ansonsten künstlerisch vor allem in der Philharmonie Wrocław zu Hause, die Türen zum ehrwürdigen Opernhaus. Dessen Intendantin Ewa Michnik fährt ohnehin ein Konzept interessanter Öffnung und lässt erstaunlich viel Moderne in den Spielplan fließen.
Dass „Marthas Garten“ freilich kein Repertoirestück werden wird, steht außer Frage. Hier geht es ums Austasten von Spielräumen, ums Experiment. Auch in sich selbst ist das Kammerstück offen und vieldeutig. An Paradiesgärten wäre zu denken, an endlose Park- und Lebeslandschaften auch, die für ein einzelnes Paar zu weitläufig blieben. Nicht einmal Namen hat der Komponist seinen Akteuren gegeben, sie sind lediglich angeregt durch Texte von Piotr Jasek. Wer dennoch an Adam und Eva, Romeo und Julia oder ähnliche Archetypen denkt, liegt sicherlich nicht so ganz falsch. Bei Duchnowski werden sie Stimme und Spieler genannt. Agata Zubel singt Gedankengänge, Monologe und Träume, Eryk Lubos spricht oder schreit auch mal dagegen an und doch lassen die beiden keinen Dialog entstehen. Diese Vereinzelung der Stimmen unterstreichen auch die weiteren im Bühnendunkel verteilten Instrumentalisten: Justyna Skoczek am kräftig präparierten Flügel, Michal Moc am Akkordeon, Maciej Milaszewicz am Cello sowie Karol Papała am Schlagzeug.
Die beiden menschlichen Stimmen sind nicht die einzigen bewegten Figuren, auch die Musiker haben ihre Auftritte und mancherlei Aufgaben um die Instrumentenkörper herum. Stimme und Spieler jedoch, Sie und Er, die könnten ein Paar sein, könnten zumindest versuchen wollen, eines zu werden. Beide aber haben so entwurzelt zu agieren, tauchen sogar in die Erinnerungswelten der eigenen Großeltern ein, das eine reelle Chance individueller Begegnung gar nicht erst aufkommt. Insofern bleiben auch sie – Archetypen der Einsamkeit.
Gemeinsam mit dem Komponisten Cezary Duchnowski generiert Pawel Hendrich Computerklänge, die teils konträr und teils synchron zur Videokunst von Maciej Walczak den gewaltigen Raum füllen. Das Material reicht von populärmusikalischen Einflüssen bis in die Nähe des experimentellen Jazz. Es geht allerdings auch in die Nähe akustischer Grenzwerterfahrungen, nie jedoch wird es wirklich schockierend. Die Gesamtästhetik der musikalischen Würfe findet ihre Entsprechung in schwarz-weiß-grauen Projektionen, flächige Lichtflecken und Einsätzen von Stroboskop. Während des Festivals ist dies die einzige Aufführung von „Marthas Garten“ gewesen. Das Stück soll aber – in der sicherlich gebotenen Dezenz – ins Opernrepertoire aufgenommen werden.