Bislang galten die Berliner Philharmoniker als PR-Profis, die sich bestens in Szene zu setzen verstehen. Dieses Image haben sie am Wahltag des neuen Chefdirigenten verspielt. Womöglich mit Folgeschäden.
Gelebte Demokratie ausgerechnet in der Hauptstadt Berlin? Einen Versuch sollte es wert sein. Bei einer Wahlbeteiligung von beinahe 100 Prozent standen die Chancen recht gut. Nur eines der 124 Orchestermitglieder war aus Krankheitsgründen verhindert. Die anderen 123 Musikerinnen und Musiker der Berliner Philharmoniker konnten sich auch nach mehr als elf Stunden zähen Ringens auf keinen Nachfolger für ihren Chefdirigenten Simon Rattle einigen. Der Brite wechselt 2018 nach London und gab diese Absicht rechtzeitig bekannt. Das Konklave wurde vertagt.
Dabei haben wir alle gedacht, die Philharmoniker seien gewiefte PR-Profis, die ganz gewiss für Schlagzeilen in der „Tagesschau“ sorgen wollten. Wenn es schon mit den Nachmittagsnachrichten nichts wurde. Doch welcher Termin auch immer angesagt, verschoben und wieder verschoben wurde, zum Schluss sind sie alle geplatzt.
Mit diesem Nicht-Ergebnis soll nun die aus allen Häuschen geratene Musikwelt abgespeist werden, die so selten wie nie so sehr auf solch ein Datum gegiert hatte wie am Montag, dem 11. Mai 2015? Zwar war lange vor diesem Termin schon absehbar, dass sich die Musikwelt ganz bestimmt weiterdrehen würde, egal was bei diesem eigentlich nur der Papstwahl vergleichbaren Prozedere herauskommen würde. Doch der Hype war hausgemacht und wurde außerhäusig kräftig aufgekocht. Seit Monaten wurden Kandidaten gehandelt wie die möglichen Nachrücker für ertappte Abgeordnetenmandate. Vom frühen Morgen an hatten sich die Mitglieder der Berliner Philharmonie gemeinsam mit einem Notar an einem zunächst geheimen Ort zurückgezogen, um über ihren künftigen Chefdirigenten abzustimmen. Weltweit ist es einmalig, dass ein Klangkörper sich seinen Chef selbst wählt. Bei den 1882 gegründeten Berlinern, die nie Hof- oder Staatskapelle waren, hat das Tradition.
In diesen 133 Jahren Orchestergeschichte gibt es eine ganze Menge weltweit einzigartiger Dinge. Ganze sechs Chefdirigenten hat es bislang gegeben, die ersten hundert Jahre musizierte das Orchester als reiner Männerverein, erst 1982 kam die erste Frau an ein Philharmoniker-Pult. Der Geigerin Madeleine Carruzzo folgte ein Jahr später die Klarinettistin Sabine Meyer, erst 2001 gab es die erste Solostelle für eine Frau. Nach Dirigentenpersönlichkeiten wie Hans von Bülow, Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler markierte der Erneuerer Herbert von Karajan in seiner mit 34 Jahren rekordverdächtig langen Amtszeit Umbrüche vor allem in Sachen der Vermarktung von Tonträgern. Sein Nachfolger Claudio Abbado lockerte die hierarchisch geprägten Teutonen demokratisch auf, der heutige Amtsinhaber (seit 2002) Simon Rattle erweiterte als Mitglied der Berliner Spaßgesellschaft die Popularität von Orchester und Repertoire. Stichworte wie Education und Digital Concert Hall übertünchten allerdings nicht, dass man dem Briten immer mal wieder mangelnden Tiefgang vorwarf. Ab 2018 wird der heute 60-Jährige das London Symphony Orchestra übernehmen. Der freiwillige Weggang vorm ganz großen Knatsch?
Denn es ist kein Geheimnis, dass sich die Berliner als das beste Orchester der Welt ansehen. Lediglich Wien, Mailand und New York könnten an diesem Ruf noch ein klein wenig kratzen. Allerdings hörte man, je näher der Wahltermin für die Rattle-Nachfolge rückte, immer öfter, die Sächsische Staatskapelle würde seit dem Amtsantritt von Christian Thielemann viel „schöner“ klingen als die Berliner Kollegen, die sie erfolgreich bei den Osterfestspielen Salzburg beerbt haben. Ja gewiss, „schöner, aber nicht besser“, wird dann stets nachgeschoben.
Natürlich steht der gebürtige Berliner ganz weit oben auf der Liste all der vorab gehandelten Favoriten. So oft er in den vergangenen Wochen und Monate darauf angesprochen wurde, hat er deutlich die Augen verdreht, Fotografen auch mal des Raumes verwiesen und unbedingt das Thema wechseln wollen. Andeutungsweise verschmitzt ließ er hier und da jedoch gern durchblicken, wie sehr er mit Herz und Seele ein echter Berliner sei. Selbstverständlich ist Thielemann inzwischen klug genug, sich bedeckt zu halten, zumal in solch heikler Angelegenheit. Denkbar wäre, dass er erst einmal die mit der Staatskapelle in Dresden gesäten Früchte – ein Zenit dieser Traumehe ist noch nicht abzusehen – aberntet, um dann sein Alterswerk mit den Berlinern einzufahren. Das Zeug dazu hat der einstige Karajan-Assistent Thielemann mit seinen jetzt 56 Jahren allemal. Vielen scheint er geradezu prädestiniert für einen Wechsel nach Berlin, auch wenn dies in Dresden als Verrat gedeutet werden könnte.
Ein offenes Geheimnis ist die starke Fraktion in Berlin, die sich nach diesem Erz-Kapellmeister mit seinem deutschen romantischen Kernrepertoire geradezu sehnt. Gut möglich, dass dann auch die Karten für Salzburg noch einmal ganz neu gemischt werden. Widersachern dürfte der einstige Poltergeist und Provokateur aus GMD-Zeiten an der Deutschen Oper nicht ganz vergessen sein. Folglich gibt es ein heftiges Für und Wider an der Spree, wo ohnehin auch immer wieder andere Namen kursieren, nicht zuletzt der zweimal leer ausgegangene Daniel Barenboim.
Ulrich Eckardt, der einstige Chef der Berliner Festspiele, sah diesem Wahl-Tag ebenfalls mit Spannung entgegen und mutmaßte in einem Rundfunkinterview schon sehr früh, dass die Philharmoniker über ihre eigene Entscheidung selbst genauso überrascht sein könnten wie das Publikum. Diese Wahl werde gern als „Festtag der Orchesterdemokratie“ apostrophiert, heißt es, denn so viel Demokratie gibt es nicht nur in Berlin kein zweites Mal. Und so viel Aufschub nur auf dem ewig neuen Flughafen – denn nach gut elf Stunden wurde die Wahl ergebnislos abgeblasen. Bis dahin hatte sich längst der Abstimmungsort, eine Kirche im Stadtteil Dahlem, die den Philharmonikern seit Karajans Zeiten als akustisch ideales Aufnahmestudio dient, herumgesprochen und war von Presse und Publikum schier belagert worden.
Wenn dieser erwartungsvoll herbeigesehnte Tag irgendetwas gebracht hatte, dann dies: Dass sich die Philharmoniker entweder tatsächlich nicht einigen konnten und sich in einem Richtungsstreit verbissen haben oder dass der erwählte Kandidat abgesagt hatte. Andere Möglichkeit, viel simpler: Er ging nicht ans Telefon. Denn erst nach der „mit deutlicher Mehrheit“ getroffenen Entscheidung würde er (oder sie) telefonisch gefragt werden. Absprachen und Informationen vorab soll es angeblich nicht gegeben haben. Insider hingegen wollten schon von unterschriebenen Vorverträgen gewusst haben!
Nach den vielbeachteten Wahlen und ihrem nichtigen Erfolg will das Orchester nun binnen Jahresfrist eine weitere Abstimmung vornehmen. Dann vielleicht mit weniger Geheimniskrämerei, aber mehr Information?