Ungewöhnliche Klänge dringen aus der Heilig-Geist-Kirche in Lemgo nach draußen. Wenn man eintritt und schaut, wo sie herkommen, ist man verwirrt, denn das einzige (Musik-)Instrument scheint eine ganz normale Pfeifenorgel zu sein. Möglicherweise war es ja auch nur eine akustische Täuschung – vielleicht kamen die Klänge ja aus einem vorbeifahrenden Auto? Aber da sind sie wieder, die Klänge von Marimba und Glockenspiel und eine Trommel ist auch dabei. Fast klingt es ein wenig wie im Zirkus.
Klangzauber in Lemgo: Die Wurlitzer Kinoorgel in der Kirche
Gute, in altehrwürdiger Handwerkskunst und mit hochwertigen Materialien hergestellte Musikinstrumente sind auf eine lange Haltbarkeit hin ausgelegt – heute würde man ihr Zeiten überdauerndes Wesen wohl als „nachhaltig“ bezeichnen. Eines der wohl prominentesten Beispiele dafür sind die Violinen des Cremoneser Geigenbaumeisters Antonio Stradivari (ca. 1644 – 1737). Das Allerwichtigste für diese „alten“ Instrumente ist es, dass sie regelmäßig gespielt werden, denn nur dadurch kann ihre bauliche Substanz bewahrt werden.
Heute sind viele seiner Instrumente in der Hand von Mäzenen, die diese Instrumente an hochbegabte Künstler verleihen. Deren persönliche musikalische Kunst gepaart mit der handwerklichen Meisterleistung Stradivaris führen dann oftmals zu klanglich-emotionalem Hochgenuss. – Die zahlenmäßig möglicherweise größte Gruppe dieser „nachhaltigen“ Musikinstrumente sind die Pfeifenorgeln in Kirchen. Sie werden (Reinigungsarbeiten und kleinere Reparaturen inbegriffen) teilweise über viele Jahrhunderte im gleichen Raum Woche für Woche, gelegentlich Tag für Tag zum Klingen gebracht.
Was aber geschieht mit einer Orgel, derer die Gemeinde überdrüssig geworden ist oder einfach ihren historischen Wert nicht zu schätzen weiß? Oder mit der der neu ernannte Organist klanglich nichts anfangen kann? Oder wohin kommt die Orgel, wenn die Kirche stillgelegt und entwidmet wird? – Auf der anderen Seite aber auch die Frage, woher man eine neue Orgel bekommen soll. Lassen wir uns eine neue Orgel von einem „renommierten“ Orgelbauer genau für unsere Kirche anpassen? Kommt für uns vielleicht eine gebrauchte Orgel aus einer anderen Kirche in Frage? Wer soll das alles bezahlen?
100 Jahre alte „neue“ Orgel
Als die katholische Heilig-Geist-Kirchengemeinde in Lemgo in Ostwestfalen-Lippe im vergangenen Jahr ihre neue gebrauchte Orgel bekam, sprach der zuständige Paderborner Wehbischof von einem außergewöhnlichen Instrument für die Musica sacra und er attestierte der Gemeinde gleichzeitig eine gehörige Portion „Mut“. Dieses Instrument, das nun seit gut einem Jahr in Lemgo die Liturgie und das Gemeindeleben mit neuen und durchaus ungewöhnlichen Klängen versorgt, wird in diesem Jahr 100 Jahre alt.
In Lemgo steht seit Pfingsten vergangenen Jahres eine Wurlitzer Kinoorgel. Die alte elektronische Orgel sollte nach der Renovierung der Kirche gegen eine neue Orgel ausgetauscht werden und zufällig rief damals der Paderborner Erzbischof Werner Thissen seine Gemeinden dazu auf, neue „innovative Projekte“ anzustoßen. Eine Kinoorgel in einer katholischen Kirche – das war für die zuständigen Gremien innovativ ausreichend, um eine Anschubfinanzierung seitens des Erzbistums zu gewähren.
Schon seit dem ersten Aufkommen von Stummfilmen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts hatte man den Wunsch, diese akustisch zu untermalen. Genoss die „Lebende Photographie“ auch einen großen Zulauf, so wurde der fehlende Ton doch als großes Manko empfunden. Erste Versuche mit Phonographen und Schallplatten erwiesen sich als nicht wirklich stimmig, zumal eine Synchronität von Bild und Ton so gut wie nie erreicht wurde. Mit dem Aufkommen längerer Filme etwa um 1910 wurden alle Filme irgendwie mit Musik unterlegt.
In vielen Kinos gab es Klaviere – die Musiker hielten sich bei ihren Darbietungen entweder an vorgegebene Partituren oder improvisierten eine passende Musik zum Geschehen auf der Leinwand. Manche Kinos hatten sogar zu diesem Zweck eigene Orchester. In der Zeit von 1930 bis um 1940, als der Tonfilm den Stummfilm langsam verdrängte, produzierte die amerikanische Firma Wurlitzer sogenannte Kinoorgeln, die neben dem typischen Orgelklang auch über reichhaltige Klang- und Geräuscheffekte (z. B. Türklingel, Autohupe, Hufgeklapper, Sirene, Schiffsglocke) verfügte, um unterschiedliche Szenarien in den Filmen möglichst realitätsnah zu untermalen.
Solch eine Wurlitzer Kinoorgel hat nun als erste in Deutschland den Weg nach Lemgo in eine christliche Kirche gefunden. Ursprünglich stand sie seit 1924 in einem Restaurant, dem „Pig’n Whistle“, in Los Angeles gleich neben dem Hollywood Boulevard. Das Essen dort war sehr günstig und der Musik beim Essen gern zugehört. Ende der 1940er Jahre erwirbt ein Gast, Dr. Howard C. Stocker, das Instrument für seinen privaten Gebrauch. 1955 zieht Stocker mit seiner Orgel nach San Bernadino, wo die Orgel im neugebauten Haus ihren eigenen Patz erhält. Viele Konzerte finden im Haus Stocker statt. 1978 läßt er die Orgel grundlegend überholen. 1987 brennt das Haus von Stocker nieder – einzig die Orgel konnte das Inferno überleben.
Als Stocker 1993 stirbt, wird die Orgel nach Deutschland ins niedersächsische Celle vermittelt. Dort suchte ein „Kinoorgel-Enthusiast“ bereits einige Jahre genau ein solches Modell, eine Wurlitzer Style D. Da sich dieser aber zwischenzeitlich eine größere Wurlitzer gekauft hatte, vermittelte er die „Style D“ an den Orgelbauer Friedhelm Fleiter nach Münster, der sie in all den folgenden Jahren als sein „persönliches Hobby“ bewahrte und pflegte. Nachdem er in den Ruhestand eingetreten war und seine Firma an seinen Nachfolger übergeben hatte, wurde der Platz im Betrieb gebraucht und die Orgel wurde liebevoll nach Lemgo weitergereicht.
Kinoorgel in katholischer Kirche
Nun könnte so etwas ganz einfach geschehen: man bekommt die Orgel, baut sie auf – und gut! Bei einer modernen Kirche – hier aus dem Jahr 1968 – gibt es immer noch Architekten oder deren Nachkommen, die verhindern wollen, dass das ursprüngliche Konzept verändert oder verwässert wird. Der originale Prospekt der Wurlitzer-Orgel konnte daher nicht mehr verwendet werden. Die Kirche selbst lebt von Quadraten, kubischen Formen und der Diagonale.
Das neue Orgelgehäuse musste diese Gestaltungsmerkmale aufnehmen. Zwei annähernd würfelförmige Teile wurden dazu auseinandergesetzt. Das obere Teil, ein vollständiger Würfel, enthält das gesamte Pfeifenwerk und ist an zwei Seiten mit Schwelltüren versehen. Im unteren, nach vorn ausgeschnittenen Teil befinden sich die Windmaschine und alle Percussions- und Effektinstrumente. Im unteren Teil sind ebenfalls Schwelljalousien angebracht, die aber nicht bewegt werden können, also immer geöffnet sind.
Nun ist Pfeifenorgel nicht gleich Pfeifenorgel. Die Wurlitzer-Orgel ist eine geradezu geniale Ingenieursleistung. Bei einer „normalen“ Pfeifenorgel (die, die wir jahrhundertelang in Europa gebaut haben) hat jedes Register, quasi jede spezifische Klangfarbe, für jeden Ton eine eigene Pfeife. Also hat ein Register einer Orgel mit einem Manualumfang von 54 Tasten auch 54 Pfeifen. Hat diese Orgel 10 Register, hat sie auch gleichzeitig 540 Pfeifen usw.
Bei der Lemgoer Wurlitzer-Orgel gibt es insgesamt nur sechs vollständig ausgebaute Pfeifenreihen, aber über 50 Register. Da jede Pfeife in den sechs Pfeifenreihen einzeln ansteuerbar ist, holt sich jedes Register die Pfeife, die es gerade benötigt. Dieses System war lange Zeit ein umstritten, weil man glaubte, dass dadurch die Orgel einen nicht so vollen und voluminösen Klang entfalten könne, wie bei dem alten Modell. Das hat sich aber im Laufe der Zeit als Irrtum herausgestellt!
Beim Wiederaufbau der Orgel in Lemgo hat man darauf Wert gelegt, die Orgel möglichst originalgetreu zu belassen. Da aber im Original alle Funktionen der Orgel pneumatisch (also mit Luft) angesteuert wurden, gab es immer wieder durch lecke Luftleitungen Probleme. Deswegen sind viele steuerungstechnische Dinge elektronisch ausgebaut worden. Die originale Klangerzeugung ist aber pneumatisch belassen worden. Das erzeugt den originalen „historischen“ Sound, ist aber in der Bedienung annähernd unempfindlich für Störungen.
Dritter Ort
So hat die Gemeinde nun eine völlig „normale“ Orgel, die etwa für die gottesdienstlichen Belange in absolut gleicher Weise geeignet ist, wie jede andere Pfeifenorgel auch. Zusätzlich verfügt sie über eine breite Klangpalette an Stabspielen und Effektklängen, die im alltäglichen Gottesdienst wahrscheinlich normalerweise nicht verwendet werden – oder eben nur sehr sparsam, um bestimmte Situationen oder Emotionen klanglich treffender auszugestalten.
Gleichzeitig hat die Gemeinde aber ein Instrument, das in ganz eigener Weise etwa Ballettaufführungen oder Stummfilme musikalisch adäquat zu begleiten. Die Orgel ist also nicht mehr nur fromm und traditionell, sondern auch originell und frech, fällt mit ihrer Klangwelt aus dem in einer Kirche erwartbaren Rahmen. Das aber zieht Menschen ganz neu an, macht sie neugierig, lässt Kinderherzen höher schlagen, lässt so etwas wie einen dritten Ort entstehen, einen Ort an dem Menschen sich treffen, um ihre Freizeit gemeinsam zu gestalten. Im besten Fall sagen Menschen nachdem sie die Orgel gehört haben: „Der liebe Gott und Sie, Herr Kantor, haben uns heute zur Kirche und zu Gott gebracht.“
Klänge:
- Dave Wickerham Chitty Chitty Bang Bang (eine große-Wurlitzer-Orgel – nicht die in Lemgo) –
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