Alessandro Scarlatti hat 114 Opern geschrieben. „Griselda“, 1721 in Rom uraufgeführt, war die letzte. Weiten Kreisen des italienischen Publikums galt der Komponist damals als zu altmodisch - und sein Werk als zu anspruchsvoll. Erst René Jacobs brachte „Griselda“ im Jahr 2000 an der Berliner Staatsoper wieder auf die Bühne. 2008 folgte das Theater Bielefeld. Nun hat sich das Hessische Staatstheater in Kassel an die schwierige Aufgabe gewagt – mit vollem Erfolg.
Obwohl der in Boccaccios „Decamerone“ enthaltende „Griselda“-Stoff seinerzeit ausgesprochen beliebt war und Apostolo Zenos darauf fußendes Opernlibretto mehrfach vertont wurde, ist das von dem römischen Adeligen Francesco Maria Rospoli redigierte Textbuch aus heutiger Sicht schwer zu inszenieren. Griselda, die zur Königin erhobene Hirtin, wird von ihrem Gatten, dem sizilischen König Gualtiero, verstoßen und schwersten Prüfungen ausgesetzt, bis er sie schließlich wieder in Ehren auf den Thron erhebt. Sie übersteht alle Erniedrigungen, Schikanen, Intrigen und angeblichen Schicksalsschläge nicht unangefochten, aber mit stabilen Urvertrauen und in unverbrüchlicher Treue zu ihrem grausamen Ehemann. Gualtiero allerdings handelt bei Scarlatti nicht aus böser Laune, sondern treibt aus einer politischen Notlage heraus ein riskantes Spiel. Angeheizt von Gualtieros intrigantem Bruder, rebelliert das Volk gegen die unstandesgemäße Nichtadelige auf dem Thron. Der König gibt scheinbar nach – aber nur, um den Kritikern zu beweisen, dass am Ende „Tugend, nicht Blut“ zählt, und Griselda in aller Form zu rehabilitieren.
Dass der drohende Volksaufstand keine Lappalie ist, wird im Großen Haus des Kasseler Staatstheaters gleich zu Beginn deutlich, als zu wildem Paukengedröhne aus dem Orchestergraben eine Truppe kurz geschorener, drahtiger und schwarz gekleideter Männer durch die Saaltüren über das Parkett aufs Podium stürmt und in aggressiver Haltung italienische Parolen brüllt, die man später in deutscher Übersetzung nicht nur auf abgeworfenen Flugblättern, sondern auch im Programmheft nachlesen kann. Die ausgebildeten Kampfsportler, die Regisseur Stephan Müller für diese Produktion engagiert hat, firmieren im Programmheft als königliche Garde, doch hier haben sie sich offensichtlich auf die Seite der Rebellen geschlagen, und Ottone (ursprünglich ein Altkastrat, hier der Bariton Jürgen Appel) ist mitten unter ihnen. Ihre von Bewegungscoach Michael Langeneckert trainierte Körpersprache ist eindeutig. Sie sind stets auf dem Sprung, und man möchte ihnen auch tagsüber ungern alleine begegnen. Nach Griseldas Verstoßung gehorchen sie im Zweifelsfall wieder dem König – als effizientes Werkzeug der Macht.
Gualtiero, verkörpert von dem Altisten Igor Durlovski, erscheint immer wieder hin- und hergerissen zwischen seinen persönlichen Gefühlen und der politischen Maske, die er sich selbst auferlegt hat; Scarlattis Musik zeichnet diesen Zwiespalt an einigen Stellen deutlich nach. Aber der König ist nicht allein. Ihm zur Seite steht sein Vasall und Vertrauter Corrado, Prinz von Apulien (Gideon Poppe in originaler Tenorlage). Corrado ist allerdings nur teilweise in die Pläne seines Herren eingeweiht. Dementsprechend macht ihm der Zwiespalt zwischen grausamer Pflichterfüllung und Menschenliebe zu schaffen: So versucht er etwa Griselda „zwischen den Zeilen“ in allgemein gehaltenen Redewendungen immer wieder Mut zu machen. Nina Bernsteiner (Sopran) singt und lebt die Figur der verstoßenen Königin sehr eindrucksvoll, mit starker stimmlicher Ausstrahlung, anrührend in ihrer Verzweiflung und ihrer Ergebenheit. Bei der Uraufführung in Rom, wo Frauen die Bühne untersagt war, wurde auch diese Partie von einem Kastraten gesungen - ebenso wie die der jungen Costanza, die in Kassel von der Sopranistin Linlin Fan übernommen wird. Costanza ist eigentlich die Geliebte von Corrados jüngerem Bruder Roberto, aber Corrado hat Besseres und Höheres mit ihr vor: Sie soll König Gualtieros neue Gemahlin werden. Auch Roberto (sehr glaubwürdig verkörpert von der Sopranistin Ulrike Schneider) möchte diesem Karrieresprung nicht im Wege stehen. Tatsächlich aber schwanken beide bis zuletzt zwischen Eifersucht und Entsagung. Dass Costanza in Wirklichkeit Gualtieros und Griseldas als Kleinkind entführte Tochter ist, weiß nur der König selbst. Unter dem Deckmantel der geplanten Hochzeit betreibt er die Familienzusammenführung und arrangiert ein „zufälliges“ Treffen von Mutter und Tochter in Griseldas schlichter Hütte. Wie Igor Durlovski gerührt und in segnender Haltung hinter den beiden Frauen steht, um sich dann im nächsten Moment an die selbstgewählte Bösewicht-Rolle zu erinnern und mit seinem Einsatz brüsk in die noch ausklingende Kantilene der beiden Frauen hineinzufahren, ist einer der frappierendsten Momente der Aufführung.
Es ist das geglückte Zusammenspiel von Szene und Musik, dass der Inszenierung ihre außerordentliche Tiefenwirkung verleiht. Das knappe, aber sehr informative Programmheft gestattet dem Leser dazu einen „Blick in die Werkstatt“. Gastdirigent Jörg Halubek hat die Partitur intensiv studiert und den Arien einen charakteristischen Affekt zugeordnet, der Person und Situation bestimmt. Dem entspricht von Seiten der Regie eine für die einzelnen Personen charakteristische Spielweise und Körpersprache. (Stephan Müller spricht vom je eigenen „Körpertanz“.) Beides zusammen schafft die unverwechselbare Identität einer jeden Figur und lässt doch die verschiedensten Konstellationen entstehen – insbesondere dort, wo Scarlatti die Einheit des Affekts sprengt. Entsprechend differenziert ist der Basso Continuo ausgesetzt, entsprechend lebendig sind die Rezitative gehalten. In den Dacapo-Arien ist der A-Teil bei der Wiederkehr nicht nur ausgeziert, sondern auch szenisch weiter entwickelt. Fast immer hat sich dann die seelische Konstitution oder die personelle Konfiguration verändert. Aus dem Rahmen fällt ein Quartett kurz vor der letzten Zuspitzung, in dem die beiden Ursprungspaare zugleich und wie entrückt singen. Im Geflecht der Stimmen sind hier plötzlich alle Hierachien aufgehoben.
Die von Hyun Chu entworfene Bühne ist ebenso aussagekräftig wie funktional. Ein Steg vor dem Orchestergraben erweitert den Aktionsradius der Darsteller erheblich; größtenteils spielt sich die Handlung vor einem Vorhang auf der Vorderbühne ab. Dieser Vorhang besteht aus einzelnen schwarzen Lamellen, die sich öffnen und drehen lassen und dadurch einen Blick „in die Hinterzimmer der Macht“ freigeben. Anfangs prangt vorne auf beiden Seiten das Emblem des königlichen Paares: Zwei einander zugewandte „G“-Initialen unter einer Königskrone. Nach Griseldas Verstoßung ist aus einem „G“ ein „C“ (für Costanza) geworden. Griseldas Hütte ist ein schlichter, aber erhöhter holzverkleideter Kasten in der hinteren Bühnenwand. Er besitzt eine Schiebetür mit Blick nach hinten aufs Meer, wodurch eine weitere Blickrichtung und Spielebene gewonnen wird. Erst am Schluss, wenn sich die Geheimnisse lichten, geben auch die schwarzen Lamellen des Vorhangs den Blick auf die See frei. Da wendet sich Igor Durlovski plötzlich in seiner tiefen Basslage, quasi mit Stentor-Stimme, an sein Volk und leitet die Auflösung des riskanten Spiels zum glücklichen Ende ein. Im Schlussjubel bleibt nur der mehrfach als Intrigant überführte, geständige und begnadigte Ottone – allerdings nicht lange. Indem er (oberhalb des wirklichen Dirigenten) das Orchester dirigiert, bringt er sich schon wieder ins Spiel für die nächste Runde. Aus dem „C“ am Vorhang aber ist wieder ein „G“ geworden. Gualtiero hat seine Liebe und seinen Thron gerettet.