Ein Novum in der Geschichte der Bayreuther Festspiele ist die Live-Übertragung der Eröffnungspremiere in rund 200 Kinos und dann „zeitversetzt live“ auch in der ARD. Vordem waren Inszenierungen, wenn überhaupt, erst in späteren Jahren im Kino und Fernsehen zu erleben. Die Wiederbegegnung mit Jan Philipp Glogers Inszenierung des „Fliegenden Holländer“, die im Vorjahr erstmals zu sehen war, zeigt intensiv detaillierte Weiterarbeit auf, erweist sich aber bei der Hinterfragung der Übertragung von Wagners originaler Geschichte in eine neuzeitliche Story als wenig stimmig.
Die ausladenden Konstruktionen von Moving-Kameras, an den Wänden des Proszeniums links und rechts angebracht, heben Wagners Intention einer optischen Täuschung der weiteren räumlichen Entfernung der Bühne vom Zuschauer und dem damit einher gehenden Eindruck überwirklich großer Darsteller auf. Aber die sind wohl auch nicht mehr gefragt, wenn im Vorfeld von Frank Castorfs antikapitalistischer Zeitreise anhand des „Ring“, noch stärker als im Vorjahr der internationale Kapitalmarkt eine Gegenwärtigkeit der Handlung evoziert.
In Christof Hetzers Bühnenbild – dem Versuch einer Visualisierung von Kapitalfluss als einer sich auf schwarzem Hochglanzlackboden erhebenden Konstruktion von Metallleitungen mit digital laufenden Zahlenketten – ist das Nussschalenboot, das nur Daland und Steuermann Platz bietet, ebenso ein geradezu persiflierendes Moment wie die slapstickartigen Bewegungsabläufe dieser beiden Handlungsträger. Vorherrschend im ersten Bild bleibt jedoch der Eindruck der Dunkelheit, und die Schlafmittel, welche Daland und dann auch der Steuermann einnehmen, strahlen merklich aufs Publikum über: vor und neben dem Rezensenten schliefen und schnarchten nicht weniger als vier Zuschauer, einer davon, ein Wagnerianer aus Neapel, verließ nach seinem Wiederaufwachen, noch im ersten Akt, den Zuschauerraum – was in den engen Bayreuther Zuschauerreihen stets großen Effekt mit sich bringt.
Die Modellkleider, die von Steuermann und der Büromannschaft den Frauen anstelle von Schmuck mitgebracht werden, lösen sich als neuzeitliches Pendant eben so wenig ein wie die Gaben des Holländers („Band“ und „Spangen“), wenn er bei deren Erwähnung Senta an Rock und Haarschopf fasst.
Der mit einem Trolley voller Devisen auf Flugreise befindliche asiatische Börsianer, mit dem Beinamen „der fliegende Holländer“, wird von seinen vorangegangenen Ehefrauen umsorgt, und eine Prostituierte macht sich an seinem Hosenschlitz zu schaffen. Der Superkapitalist schließt rasch einen schriftlichen Vertrag zum Einstieg in Dalands Unternehmen „Südwind“, das sich der Fabrikation von Ventilatoren widmet. Wenig glaubwürdig erscheint, dass Dalands Tochter in der Verpackungsabteilung der Fabrik arbeiten soll, wo der Chor „summ, summ, du gutes Rädchen“ dem Versand der luftspendenden Maschinen dient und dass sie ein Verhältnis mit dem Hausmeister hatte. Als solcher erscheint Erik, dessen Silikon-Pistole sein dürftig’ „Jägerglück“ umschreibt und der Senta, beim Versuch, sie zurückzugewinnen, eine Reihe von Erinnerungsfotos übergibt.
Senta, die das Verpackungsmaterial als Amateurkünstlerin zweckentfremdet, bemalt ihre ausgeschnittene Umwelt aus Kartons – im Gegensatz zum Vorjahr – nunmehr nicht mehr flammend rot, sondern nur noch schwarz, und so auch die von ihr gebastelte, nunmehr ebenfalls schwarze Roboterfigur, als ihr individuelles Bild einer zwergenhaften Figur, genannt „fliegender Holländer“.
Mary (Christa Mayer) singt hier den Refrain der Ballade mit, wie sie denn überhaupt von der spezifischen Idee des Mannes überaus hingerissen scheint, so dass sie ihre Jacke ebenso öffnet, wie ihre Haare. Doch der Fremde ist hier ja keineswegs der Revoluzzer. Dessen Leute (der asiatische Markt?) drücken die Norweger in die Knie und fackeln die Modellzeichnung des Erfolgsverkaufsschlager-Ventilators ab. Der asiatische Überreiche verbrennt zusammen mit Senta als Event beim mitternächtlichen Spuk seine Devisen oder Aktien. Was Senta aber offenbar besonders an dem Fremden fasziniert, ist dessen bewusste Selbstzerstörung – hier durch Drogenkonsum. Mit den von ihr ausgeschnittenen Requisiten, als ein schwerttragender schwarzer Engel, schließt sie Blutsbrüderschaft mit dem Börsianer. Und ihr finales Erstechen lässt – o Wunder – den Fremden auch verbluten. Die Selbstmörder umarmen sich blutig auf dem Gipfel der Kartonberge von Ventilatoren. Das bringt den Steuermann auf jene neue Produktionsidee, deren Umsetzung zum Erlösungsschluss in den letzten Takten zu erleben ist: eine Lampe in Form des eng umschlungenen, stigmatisiert suizidalen Liebespaares.
Auch die Projektionen auf die Folien des Gevierts der Fabrik (Video: Martin Eidenberger) wurden verändert. Schwarze Schütttechniken und Endlosfahrten durch baumartige Strukturen. Das Schattenspiel von Vater und Fremden bei Eriks Traumerzählung wird gesteigert beim Duett („Versank ich jetzt ins wunderbares Träumen?“) von Senta und Fremdem auf der im Geviert dann rotierenden Drehscheibe.
Neu ist die Besetzung der Senta mit Ricarda Merbeth: flache Spitzentöne und im Verlauf des Abends zunehmend Intonationstrübungen stören den positiven Gesamteindruck ebenso wie ihre auffallend zahlreichen, den Spielablauf unterbrechenden Blicke zum Dirigenten die Intensität der Rollengestaltung. Neu auch Tomislav Muzek, als Erik, mit einer angenehm heldenhaften stimmlichen Entwicklung.
Samuel Youn, im Vorjahr in die Titelrolle eingesprungen, meistert die Partie nun sehr souverän, wenn auch weniger eindrucksstark als unlängst bei seiner konzertanten Darbietung in der Berliner Philharmonie. Gegenüber dem Vorjahr in seinem Witz zurückgenommen ist Benjamin Bruns als Steuermann genannter Ideengeber der Firma; als komische Figur hingegen gesteigert Franz-Josef Selig als Firmeninhaber Daland.
Imposant der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor, die Herren zunächst aus dem Off, dann mächtig in Front als graue Bürohengste mit Schlipsen (Kostüme: Karin Jud) im frontalen Vormarsch, später klangreich ergänzt durch die Frauen in großer Besetzung.
Dem Dirigat Christian Thielemanns ist deutlich seine unlängst erfolgte Beschäftigung mit jener Partitur anzumerken, welche dieser Romantischen Oper Wagners vorausgegangen ist. Der Signalcharakter der Bläser in „Der fliegende Holländer“ wird hier dem von Wagners Partitur des „Rienzi“ angenähert. Aufgesetzt wirkt das Ende der Münchner Fassung. Die Entwicklung zum Erlösungsschluss – wohl auch aufgrund Fallen des Hauptvorhangs und dem dahinter erfolgenden, hörbar rekordhaften Umbau – erscheint überaus retardierend und zu gedehnt. Und Blech-Kickser beweisen, dass Wagner auch in Bayreuth den Schwankungen der Tagesform seiner Ausführenden unterworfen ist.
Am Ende der pausenlosen, zweieinviertelstündigen Aufführung, gab es viele Bravos und – abgesehen von Pro und Contra fürs Regieteam – nur Zuspruch des stark mit Politik und Prominenz durchsetzten Premierenpublikums.
Klang die Ouvertüre unter Thielemann hinter verschlossenem Vorhang aus dem verdeckten Orchester zunächst recht zurückgenommen, so gab es sie beim anschließenden Staatsempfang im zeltüberdachten Innenhof des Neuen Schlosses kontrastierend als ohrenbetäubenden Lärm, der den Lautstärkepegel von Discotheken offenbar noch überbieten wollte, zu einer Lasershow. Die gesundheitsbedrohende Dröhnung der erneut dargebotenen „Holländer“-Ouvertüre mit vorzeitig angehängtem Schluss ließ zahlreiche Gäste, trotz Regens, in angrenzende, nicht überdachte Außenbereiche flüchten.
Die nächsten Aufführungen: 3., 6., 13., 20. und 24. August 2013.