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Konsequent sexualisiert – Calixto Bieito inszeniert Bergs „Lulu“ am Theater Basel

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Eine „eigene Schlussversion“ von Alban Bergs Oper „Lulu“ hatte das Theater Basel angekündigt. Angesichts der Werkgeschichte der 1935 in Zürich als zweiaktiges Fragment uraufgeführten und postum von Friedrich Cerha um den dritten Akt ergänzten Oper, musste dies gesteigerte Erwartungen wecken. Diese haben sich – jedoch auf andere Weise – voll eingelöst.

„Das war ein Stück Arbeit!“ konstatiert der als Jack the Ripper wiedergekehrte Untote Dr. Ludwig Schön, nachdem er auf einem Müllcontainer-Lager der splitternackten Lulu den Uterus herausgeschnitten und auch die mehr vor Elend denn vor Kälte zitternde, barbusige Gräfin Geschwitz abgestochen hat. Den selben Satz hatte Dr. Schön im ersten Akt schon einmal gesagt, nach seinem Aufklärungsgespräch mit Lulus Ehemann, dem Maler Schwarz. Auch dieser erscheint in Basel völlig unverändert, also keineswegs als Schwarzer, sondern in ursprünglicher Gestalt als Popkünstler, im Reigen der Freier der Straßenhure Lulu, wie zuvor auch der im ersten Akt schnell verstummte und nun stumme Medizinalrat. Die von Berg vorgeschlagenen Rollenkoppelungen führen in Basel zu deren Rollenidentität, so dass der (hier bisexuelle) Prinz identisch ist mit dem Kammerdiener, dann allerdings ohne Hosen, behindert und mit Gehhilfe und Atemgerät.

Da der Schluss der vom Komponisten in Partitur unvollendet hinterlassenen Oper bereits in den 1934 von Erich Kleiber in Berlin uraufgeführten „Sinfonischen Stücken aus der Oper Lulu“ vorlag, war er schon vor der ersten kompletten Aufführung, 1979 in Paris, wiederholt in Bühnenaufführungen eingeflossen, etwa in Wieland Wagners (auch als ZDF-Aufzeichnung vorliegende) Stuttgarter Inszenierung.

Nur wenig vollständiger ist nun die Baseler Fassung, in der zwar das ganze London-Bild aus der Cerha-Fassung berücksichtigt, aber der erste Teil des dritten Aktes, das Paris-Bild, gestrichen ist. Letzteres passierte offenbar erst im Probenprozess selbst, denn die Vorankündigung weist noch die Besetzung der nur im ersten Bild des dritten Aktes auftauchenden Rollen aus, und auch der Besetzungszettel ist diesbezüglich nicht ganz stimmig.

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat die Geschichte konsequent ins Heute verlegt, mit ungebremster Drastik in der dominierenden sexuellen Ebene der auf Frank Wedekinds zunächst verbotenen Tragödien „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ basierenden Handlung. In Alfons Flores’ ästhetisch unterkühlten Grundraum, mit Plexiglasboden, Leuchtstoffrören und auch vertikal fahrenden Aliminiumtraversen, geht es heiß und brutal her. Auf einem pinkfarbigen Pferd startet der Tierbändiger (Andrew Murphy) als ein Cowboy mit Mikroport und Peitsche (Kostüme: Ingo Krügler); er verspeist eine Barbiepuppe, um dann, mit Popcorntüte bewaffnet, als Betrachter die quasi filmische Aktion hautnah zu erleben, bis er als Rodrigo selbst Teil dieser Handlung und am Ende des zweiten Aktes von Dr. Schöns Sohn Alwa erdrosselt wird.

Der erfolgsverwöhnte Maler ist hier ein Fotograf: seine hot Shots von Lulus Positionen sieht der Zuschauer sogleich auf einem Screen. Die bühnenhohen, farbigen Akt- und Pornofotos Lulus begrenzen sodann seinen Lebensraum. Hier hinein stößt der Penner Schigolch mit Einkaufswagen; der farbige Bassbariton Allan Evans bringt die Assoziation der (im Text gleichermaßen apostrophierten, wie geleugneten) Vaterschaft zur ebenfalls farbigen Lulu mit, die er gleichwohl sofort befriedigt. Hier bespringt, ohrfeigt und befriedigt Lulu den ihr hörigen Dr. Schön, hier verblutet der Maler mit durchschnittener Halsschlagader. Die Revue von Alwa (leider stark indisponiert: Erin Caves) spielt in einem Nachtclub. Bei Lulus Animiertanz, in einem schwebenden, goldenen Käfig, ist schon der Gymnasiast zugegen, hier als pralle Gymnasiastin, die auch den Gesangspart der Theatergarderobiere übernimmt (Aurea Marston), sich später mit Lulu und Gräfin Geschwitz zum Lesben-Dreier paart und am Ende des zweiten Aktes die Pulsadern aufschneidet. Der Abschiedbrief an Dr. Schöns Verlobte ist eine SMS, die Lulu, mit Stöckelschuhen auf ihm, diktiert.

Als Zeitraffer zwischen den beiden Bildern des zweiten Aktes hat Berg einen Stummfilm vorgeschrieben; der beginnt hier als Comic, „The Little Lulu Show“: ein Hardcore, durchs Schlüsselloch gesehen, wird zur Initialzündung für die kleine Lulu, der sich ein Lebensrausch, gleich einer rasanten Fahrt durch einen Autotunnel anschließt, unterbrochen nur durch die Gesichter ihrer abgekämpften Sexualpartner beim Geschlechtsakt.

Dieser Film wird fortgesetzt bei den sinfonischen Variationen, Bergs Tribut an den Komponisten Frank Wedekind und dessen – auch zuvor schon orchestral alludiertes – Hurenlied „Konfession“. Diese und ähnliche formale Entsprechungen arbeitet Gabriel Feltz, „Principal Guest Conductor“ am Theater Basel, trefflich heraus, so auch die Wiederkehr der Todesakkordfolge und der Bildreihe. In Feltz’ Klangbild werden Bergs spätromantische Wurzeln, seine Verwandtschaft mit Franz Schreker deutlich, gipfelnd in der Hymne des Alwa-Rondos mit dem „Adagio der Wollust“.

Die Solisten laufen nie Gefahr, vom sehr transparent spielenden Sinfonieorchester Basel zugedeckt zu werden. Dies hilft insbesondere der Sängerdarstellerin der Lulu, Marisol Montalvo, die diese Rolle auch schon anderweitig verkörpert hat. Nie zuvor jedoch wurde diese Partie so exzentrisch sexuell ausgestellt, als fotografische, filmische und bühnendarstellerische Einheit von Libido, sexueller Begierde und Erfüllung. Erstklassige Leistung in Spiel und Gesang bieten auch Rolf Romei als schlaksiger, die Popszene karikierender Maler und Tanja Ariane Baumgartner als schlanke, sehr feminine Gräfin Geschwitz. Claudio Otelli als Dr. Schön ist hinreißend in seiner Beweglichkeit, in der Ausdrucksbreite des Irrsinns, in stimmlicher Charakterisierung, Dramatik und Diktion.

Bieitos bis zur Überspitzung aktionsgeladene, in sich stimmige und stets sehr musikalische Personenführung hätte andernorts Skandale ausgelöst. In Basel aber gab es schon zur Pause begeisterte Bravorufe und am Ende ungetrübt einhelligen Jubel bei Alt und Jung. Am Baseler Publikum erweist sich so die konsequente Hinführung zugunsten neuer Interpretationen und Sichtweisen.

 

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