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Aghet - agit. Illustration
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Kunst als Zankapfel der Diplomatie – Unsatirische Verwerfungen zwischen der EU und der Türkei

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Wer entscheidet über den EU-Beitritt der Türkei, Politiker wie die Bundeskanzlerin mitsamt ihren Kollegen aus London, Paris und Rom? Sind es die Herren Davutoglu und Erdogan? Oder ist es ein Häuflein verwegener Künstler, an deren aufklärerischer Haltung nicht nur die Beitrittsverhandlungen, sondern auch die gesamte türkische Unterstützung der europäischen Flüchtlingsprogramme scheitern könnten?

Ein Völkermord ist ein Völkermord ist ein Völkermord. Schönzureden gibt es da nichts. Auch nicht im Fall des türkischen respektive osmanischen Völkermordes an den Armeniern, wie nicht zuletzt Bundespräsident Gauck unter Beweis stellte, als er im vorigen Jahr des 100 Jahre zuvor erfolgten Massakers gedachte. Die Bundesregierung hielt sich ansonsten hörbar zurück und wagte auch da noch keine deutliche Note zu diesem Ereignis. Als hätte sie 2015 bereits abgesehen, wie sehr sie die ja nun schon längst nicht mehr so ganz lupenreine Demokratie am Bosporus im aktuellen EU-Poker um Menschenleben benötigen wird. Oder wollte sie lediglich die kaiserlich-deutsche Beteiligung am Genozid von 1915 kaschieren?

Andere wagen längst klare Worte zum Thema, darunter auch türkische Künstler und Journalisten, die dafür aber Haftstrafen, Zensur und/oder Berufsverbot riskieren. Dass offene Worte unerwünscht sind, erfuhr erst jüngst die von regierungstreuen Treuhändern übernommene Oppositionszeitung Zaman. Auch der ZDF-Klamauker Jan Böhmermann, dessen Namen nun plötzlich jedermann kennt, weiß bekanntlich ein Lied davon zu singen. Oder zu reimen, was er ja auch nicht gut kann. Die türkische Empfindsamkeit trifft nun allerdings – nach der kürzlichen Ausweisung des ARD-Journalisten Volker Schwenck – auch ernsthaftere Künstler in Deutschland.

Die Dresdner Sinfoniker hatten im vergangenen Jahr zum Gedenken an das Geschehen vor 100 Jahren im Berliner Radialsystem V ihr Projekt „aghet – agit“ herausgebracht. Ein Versöhnungsprojekt, keine nochmalige Anklage, wie sie ausdrücklich betonen. Es soll nun in Dresden gezeigt und dort, am Festspielhaus Hellerau, mit einer theatralischen Umsetzung des Romans „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ verknüpft werden. Werfel hatte in seinem 1933 erschienenen und ein Jahr später von den Nazis verbotenen Buch die Greuel am Berg Musa Dagh detailreich beschrieben. Etwa 50 Dresdner Schülerinnen und Schüler haben das Stück während eines künstlerisch orientierten Praktikums in einer eigenen Textfassung mit dem Schauspieler und Regisseur Tom Quaas einstudiert. Dazu wird auch eine Ausstellung mit Fotografien von Christoph Püschner und Frank Schultze gezeigt, die weltweit an Krisenherden unterwegs waren und eine ergreifende Dokumentation zu Flucht und Vertreibung zusammengestellt haben.

Das Versöhnungsprojekt „aghet – agit“ allerdings verbindet Kompositionen der Türkin Zeynep Gedizlioglu und des Deutschen Helmut Oehring mit „Surgite Gloriaes“, dem Doppelkonzert für Bratsche und Duduk des armenischen Komponisten Vache Sharafyan. Die Dresdner Sinfoniker werden gemeinsam mit Musikern armenischer und türkischer Herkunft sowie mit dem No-Border-Orchestra auftreten, einem Ensemble, das Künstler der ehemals jugoslawischen Staaten gebildet haben. Folgerichtig sind für den kommenden Herbst Auführungen von „aghet – agit“ in Belgrad, Istanbul und Jerewan geplant. Diese Geste der künstlerischen Gemeinsamkeit dürfte allgemein verständlich sein. Die Politik aber ist mal wieder längst nicht so weit wie die Kunst.

Allein der Gebrauch von Worten wie Genozid und Völkermord hat nun einmal mehr die offizielle Türkei auf den Plan gerufen, die sich in dreister Weise neuerlich Angriffe auf die Meinungsfreiheit herausnimmt. Da sie die damaligen Verbrechen nach wie vor leugnet – Schätzungen zufolge sollen dabei bis zu eineinhalb Millionen Menschen umgekommen sein – gab es erneut massive Intervenierungsversuche. Deren „Qualität“ hat eine neue Stufe erreicht: Die EU-Vertretung der Türkei in Brüssel hatte allen Ernstes versucht, das Konzertprojekt abzusetzen und forderte die EU-Kommission ultimativ auf, sämtliche diesbezüglichen Fördergelder zu streichen. Diesem Wunsch kam die zuständige Behörde in Brüssel, die Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur freilich nicht nach. Aus Sorge um die mitwirkenden türkischen Künstler erwogen die Sinfoniker zeitweise, die Istanbul-Reise abzusagen, kamen dann aber überein, „jetzt erst recht“ Farbe zu bekennen, wie Markus Rindt als Intendant der Sinfoniker betont hat. Die künstlerische Thematisierung der damaligen Geschehnisse sei im Interesse einer Aussöhnung aller Beteiligten heute nötiger denn je, alles andere wäre vorauseilender Gehorsam gewesen.

„Wir haben schon 2014 in unserem Projekt ‚Dede Korkut’ die Erfahrung gemacht, dass allein die Benennung des Genozids genügt, um die türkische Regierung auf den Plan zu rufen. Damals zogen das türkische Ministerium für Tourismus und Kultur sowie die aserbaidschanische Botschaft unmittelbar vor der Premiere ihre Unterstützung zurück,“ erinnert sich Markus Rindt. „Dass die türkische Regierung nun selbst vor Einflussnahme auf die freie Meinungsäußerung in Kunst und Kultur auf europäischem Boden nicht zurückschreckt, ist ein Warnsignal,“ sagt Marc Sinan. Der Komponist und Gitarrist mit deutschen, türkischen und armenischen Wurzeln ist einer der Initiatoren von „aghet – agit“, sogar ein persönlich besonders betroffener, denn seine Großmutter Vahide war eine der wenigen Überlebenden des Massakers. Ihr ist das Projekt auch gewidmet. Marc Sinan betont, wenn die Regierung in Ankara nun „einen Maulkorb für Botschaften, die ihr nicht passen“ verlange, überschreite sie eine weitere Grenze.

Währenddessen wurde bekannt, dass die EU-Vertretung der Türkei in Brüssel offenbar nicht nur die finanzielle Förderung von „aghet – agit“ unterbinden, sondern obendrein jegliche Erwähnung dieses Projekts verhindern will. Die Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur als zuständige EU-Behörde hat daraufhin die bisherige Projektbeschreibung von ihrer Homepage genommen. Aus Brüssel hieß es am Wochenende dazu, Ankara habe anderenfalls angedroht, sowohl die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union als auch die Unterstützung der EU-Programme in der Flüchtlingspolitik zu beenden.

Da sage noch wer, Kunst habe keinen Einfluss auf die reale Politik! Zu dumm nur, dass die sinnstiftende Botschaft von „aghet – agit“ so gründlich missverstanden und nun in ihr Gegenteil verkehrt wird. Fatal dabei ist, dass nicht, wie auf einem anständigen Basar üblich, auf Augenhöhe gefeilscht wird. Dabei kämen sich alle beteiligten Seiten Stück für Stück näher. Nein, in diesem Fall scheint sich die Türkei in einer Verhandlungsposition des Stärkeren zu fühlen. Von Entgegenkommen keine Spur. So werden Millionen Kriegsflüchtlinge, die derzeit auf türkischem Boden ausharren müssen, zur „Verhandlungsmasse“ entwürdigt.

Der jüngsten türkischen Botschaft zufolge darf solch ein Engagement wie das der Dresdner Sinfoniker nicht unterstützt, sondern sollte verboten werden. Gerade diese Intervention auf hoher politischer Ebene beweist einmal mehr, wie wichtig die Aufklärung über das Vergangene ist, damit ähnliches Unrecht nicht wieder und wieder geschieht. Denn kein Volk der Welt ist zum Völkermord geboren. Völkermord braucht stets religiöse und/oder politische Anstifter. Oder den Mob.

„Die vierzig Tage des Musa Dagh“ am 29.4. um 19 Uhr
„aghet - agit“ am 30.4. um 20 Uhr

Festspielhaus Hellerau
www.aghet.eu

 

Nachtrag 26.4., 18:00

Bürgermeisterin fordert klare Haltung von Bundesregierung zu «Aghet»

Dresden (dpa) - Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Die Linke) erwartet von der Bundesregierung eine klare Haltung im Streit um das Konzertprojekt «Aghet» zu den Massakern an den Armeniern 1915. Sie dürfe dessen Förderung nicht von EU und der Türkei in Frage stellen lassen. «Kein Maulkorb für die Kunst», mahnte die Kulturbürgermeisterin am Dienstag in einer Mitteilung. Kunst müsse und dürfe zur Völkerverständigung durch Vergangenheitsbewältigung auch unbequem sein. Zudem stehe die Kunstfreiheit im Grundgesetz unter besonderem Schutz. «Und auch wenn es nicht Jedem passt: Das Grundgesetz gilt auch in Dresden.»

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