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Die Kraft des Hashtags. Foto/Montage: Hufner
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Kurz-Schluss – Wie ich einmal gelernt habe, welche Kraft ein Hashtag entfalten kann

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Hinweis: Wenn Sie die Politik & Kultur 1/2018 schon gelesen haben, können Sie sich die folgenden drei Absätze sparen. Sie dienen der Information unserer zahlreichen Neu-Abonnenten und für diese als Diskussionsgrundlage. Ungefähr seit meinem neunten Lebensjahr bin ich insgeheim der Überzeugung, dass Frauen das stärkere Geschlecht sind. Es passierte im Winter auf dem Heimweg von der Schule. Aus vermeintlich angemessener Distanz bewarf ich die gleichaltrige Nachbarstochter mit nicht zu hart gepressten Schneebällen. Ehe ich mich versah, stürzte sie, obwohl nicht größer gewachsen als ich, auf mich zu, stieß mich beidhändig vor die Brust. Ich verlor das Gleichgewicht und plumpste in den unglücklicherweise vorhandenen Straßengraben, der reichlich braun-brackiges Schmelzwasser führte. Mein dicker Lodenmantel sog sich rasend schnell mit der eiskalten Brühe voll. Ich erspare Ihnen die Schilderung meiner tagelang tief gekränkten Jungenehre – ganz zu schweigen von den handfesten Kommentaren meiner Eltern.

Heute kann ich es ja beichten: Meine Schneeballwürfe tat ich nicht aus aggressivem Impetus, vielmehr aus Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation. Die Nachbarstochter gefiel mir nämlich schon seit einiger Zeit ziemlich gut. Aber ich war viel zu feige, vielleicht auch zu schüchtern, sie ganz „normal“ anzusprechen. So zerschellte mein erster „Anbandel“-Versuch an meiner in solchen Angelegenheiten ungeübten, mangelnden Sensibilität.

Im Verlauf der weiteren Jahrzehnte lernte ich doch dazu und bin fest überzeugt, dass ich mich der Anbahnungen meiner quantitativ überschaubaren Beziehungen weder formal noch inhaltlich zu schämen habe (Ende der Textwiederholung aus P&K 1/18).

Welch ein Irrtum. Doch eines nach dem anderen: Weil ich von Anfang an das sogenannte Twittern in seiner Begrenzung auf wenige hundert Zeichen für eine kulturlose Kommunikationskastration hielt, angemessen allenfalls dem gewählten amerikanischen Zombiepräsidenten, schlug ich alle „Einladungen“ zur Beteiligung oder Gefolgschaft an solchem Stümmelgeschnatter in den Wind. Bis auf meiner still vor sich hindümpelnden, eigentlich schon dem Vergessen preisgegebenen Facebook-Präsenz und damit meinem Mailaccount das ausbrach, was man heutzutage wohl einen Shit-Tornado nennt.

Die eher scherzhaft gemeinte Veröffentlichung meiner kleinen autobiografischen Episode in der vergangenen Ausgabe verursachte eine Kommentarflut mir unbekannten Ausmaßes und teils widerlicher Aggressivität. Dankenswerter Weise riet mir ein Boris Z. aus B. in einem der ersten Postings, mich doch in der aktuellen Initiative „Hashtag MeToo“ als Opfer zu outen. Schließlich sei ich aus harmlosem Anlass aufs Übelste misshandelt worden. Und das auch noch von einem weiblichen Wesen, dem meine Sympathie, meine unschuldige Liebe gehörte. Allein diesem sicherlich gut gemeinten Ratschlag folgte ein Rattenschwanz von über 300 sehr unterschiedlichen, meist mit wüsten Beschimpfungen gespickten Follow-Ups: Furore S. aus M. unterstellte Boris Z. grundsätzliche heimtückische Gewaltbereitschaft gegen Frauen, da er Steinigungen, und sei es mit sicherlich kiesdurchsetzten Schneebällen, verharmlosend billige. Mich nannte sie einen wohl zu früh hormongesteuerten Brutalo-Macho und in Zukunft absehbar einen sadistischen Frauenquäler. Riccardo (ohne Ortsangabe) forderte Boris Z. auf, sich doch offen zu seiner deutlich erkennbaren Homosexualität zu bekennen, allerdings seine pädophilen Neigungen behandeln zu lassen – ein Neunjähriger sei das falsche Lustobjekt. Er freilich (63, gut gebaut) stünde bei Kontaktaufnahme zur Verfügung…

Mein fett gedruckter Zwischenruf, der Anlass all dieser Aufregung sei doch verglichen mit aktuelleren „Hashtag MeToo“-Fällen wirklich harmlos und darüber hinaus Jahrzehnte her, löste nur ein weiteres Twittergewitter aus. Tenor: Ich hätte wohl damals zu lang im Eiswasser gelegen und schweren geistigen Schaden genommen, der meine Schuldfähigkeit freilich reduziere. Oder: „Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will, früh versteift sich der perverse Sex-Täter“.

Was hatte ich da ahnungslos losgetreten. Ich brauchte drei Tage, um herauszufinden, wie man die eigene Facebook-Präsenz löscht. In den zwei- bis dreistündigen Wartezeiten zwischen den ca. 50 einzelnen Schritten schossen mir diverse Boshaftigkeiten durch den Kopf: Wie nähern sich Frauen und Männer künftig an, lernen sich gefahrlos und jedwedem Anstandscodex genügend kennen? Ist die Menschheit vom Aussterben bedroht? Oder sind vielleicht genügend Samenspenden eingefroren, um kontaktlose Vermehrung zu gewährleisten? Sind Liebesbeziehungen nicht eigentlich ein wichtiger Bestandteil des Lebenssinns? Warum verbringt Trump, der geldsprudelnde Allesbetatscher nur acht Stunden vor dem Fernseher – und nicht 24, da gibt’s doch für ihn sicher schon Virtual-Reality-Pornos, die schärfer sind als seine fleischlichen Begleiterinnen… – Sie merken, ich fange an, wirr zu fantasieren, vielleicht eine gefährliche Begleiterscheinung des beschlossenen Abschieds von allen digitalen Kommunikationskrücken.

Aus unserer Küche (ich lebe in einer glücklichen Ehe) schrillt der Backofen-wecker. Ich habe einen zarten Hirschrücken in der Röhre, der begossen sein will. Laptop aus. Und nach dem Essen gehen wir ins Berliner Ensemble und ziehen uns die „Dreigroschenoper“ rein.

Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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