Vor 111 Jahren kamen im Zuge einer wohlbürgerlichen Bewunderung für das Leben der Boheme Künstleropern in Mode – zuvorderst mit Gustave Charpentiers in Paris erscheinendem musikalischem Montmartre-Roman „Louise“, dann auch mit der römischen „Tosca“ von Giuseppe Giacosa, Luigi Illica und Giacomo Puccini. Seitdem ist die Kette der größer oder kleiner dimensionierten Werke, die einen Maler auf der Bühne singen oder dessen Biographie einkreisen lassen, nicht abgerissen.
In Alban Bergs „Lulu“ ist es die stark stilisierte Figur Richard Gerstls, die mit dem Pinsel dem weiblichen Reiz nachjagt und sich dann vorm Spiegel selbst tranchiert. Paul Hindemith, der bereits Mitte der 20er Jahre den mörderischen Goldschmied Cardillac nobilitiert hatte, setzte in der 30ern dem Maler „Grünewald“ – Mathis Gothart Nithart – ein Denkmal, zwei Jahrzehnte Später Casimir von Pászthory dem Würzburger Holzschnitzer Tilman Riemenschneider.
Das Feld weitete sich am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal deutlich. Da betrat, wie der Regisseur Florian Lutz präzise beobachtete, „eine buntscheckige Freischar von Komponisten, Schriftstellern und bildenden Künstlern aus größerer und geringerer Tiefe des historischen Raums die europäischen Musiktheater-Bühnen – in Kompaniestärke. Solche massive Präsenz warf die Frage auf, warum ausgerechnet Künstler als dramatische Figuren sich derart in den Vordergrund spielten.“ An der Fest- wie an der Fragestellung hat sich bis heute kaum etwas geändert. Beide rekurrieren auf jenes Verlangen in der weithin anonymen Gesellschaft, reale historische Personen zu Kunstprotagonisten zu klonen. Dies geschah in Bezug auf Kunst-Prominente zum Beispiel mit dem von Lokomotiven überragten Musiktheaterprojekt „Beuys“ von Franz Hummel 1998 in Düsseldorf oder mit „Facing Goya“ von Michael Nyman 2002 in Karlsruhe. Besonders mitgenommen wurde der posthum des Mordes verdächtigte Komponist Gesualdo und der Ohrabschneider van Gogh (jeweils drei Treffer). „Nicht zuletzt zur Stilisierung als Schmerzensmann taugen die genialen Kreativen“, resümierte Gerhard R. Koch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – „mitunter Märtyrer ihrer Kunst, bieten sie sich als personale Identifikationsobjekte an“.
Indem die Komponistin Marcela Rodríguez nun Brief- und Tagebuch-Passagen von Frida Kahlo de Rivera (1907–1954) zu einer Textvorlage kompilierte und diese für das Theater Heidelberg mit Musik versah, näherte sie sich dem tapferen Schneiderlein: sieben Richtige! Sie entwickelte als weibliche Komponistin aus der Dritten Welt in preisgünstigem kleinem Format eine Frauen- und Künstlerinnen-Oper über eine besonders von Schmerzen heimgesuchte und vom Ehemann fortdauernd betrogene aufrecht kämpfende Revolutionärin, die politisch heimatlos im eigenen Land wurde – also gleich auch noch ein Stück Heimatkunst. Optimaler können in vorauseilender Pflichterfüllung grün-sozialdemokratisch geprägte Förderrichtlinien für neue Kleinbühnenkunst nicht „umgesetzt“ werden – so viel Gutgemeintes auf einen Streich kam mir jedenfalls in 45 Jahren Rezensententätigkeit noch nicht vor den Bleistift.
Der Ort für die Uraufführung von „Las cartas de Frida“ erschien symbolträchtig: Die Premiere fand unterhalb des ramponierten Heidelberger Schlosses im Zwinger 1 statt – unter musikalischem Kommando der militärisch-zackig und angesichts des kleinen von ihr befehligten Häufleins im Hintergrund der Bühne mit viel zu großen Gesten dirigierenden Mirga Gražinytė. Vorbildlich sang sie die ganze spanische Partie der das Monodram tragenden Sopranistin Sybille Witkowski vor und knipste dazu ihr blondes Dauerlächeln an. Offensichtlich hat die jungen Litauerin diesen Kunstgriff von Simon Rattle gelernt und damit ihre Chance erhöht, dereinst erste Chefdirigentin des Orchesters der Deutschen Bank zu werden (vorerst grast sie zur Bewährung als zweite Kapellmeisterin am unteren Neckar und wird dort wohl etwas Überdruck ablassen können).
Auch die übrigen Mitwirkenden auf der Bühne sowie im Regie- und Ausstattungs-Team waren ausnahmslos weiblichen Geschlechts – das Double für die einsame Frida, deren historisches Vorbild sich ja auf knapp der Hälfte der von ihr geschaffenen Bilder selbst portraitierte und gelegentlich gleich doppelte. Quotenrelevant waren auch die Regisseurin (Johanna Wehner) und die Bühnenbildnerin (Melanie Fürst). Letztere ließ ein Geweih auf eine Stange montieren und einige Bilderrahmen aufstellen, die wohl unvollendete Arbeiten der Frida K. andeuten sollten. Deren exorbitanter Wille, die Mit- und Nachwelt an ihrer willensstarken Persönlichkeit und an ihrem Leiden teilhaben zu lassen, gehörte im Zuge der szenischen Umsetzung der Frida-Monologe gewiß honoriert. Die Regie-Konzeption, so erläuterte die Dramaturgin, habe der ans „Unmittelbare“ der historischen Figur erinnernden Sopranistin eine stumme bzw. aufmerksamkeitsheischend flüsternde Figur gegenüberstellen wollen, die „die Idee von Frida“ verkörpere.
Die 1951 in Mexico City geborene und dort auch ausgebildete Marcela Rodríguez präsentierte eine Suite von Kammermusik-Piècen, die von einer energischen „Obertura“ eingeleitet wird. Zu ihr windet sich die Sänger-Darstellerin leidend am Boden. Die Komposition nutzt Anklänge an heimatliche Folklore und an den Neoklassizismus der weltweit wenig demokratisch gestimmten 1930er Jahre. Sie sorgt mit ostinatem Rhythmus für Drive und verwöhnt die Protagonistin mit einer bestens sangbaren Lineatur (vermeidet also die expressiveren Leidens- und Schreck-Gesten). Freilich resultiert auch aus diesem musikalischen Impuls keine abendfüllende theatrale Dynamik – wie überhaupt in Heidelberg unerfindlich blieb, warum die Abarbeitung an der Künstlerin und Kommunistin Kahlo nicht mit geeigneteren literarischen oder filmischen Mitteln gesucht wurde sondern ausgerechnet mit einer Partitur, die eine „Kammeroper“ konstituieren soll.
Wie Klopfzeichen aus dem Totenreich muteten die Passagen an, in denen sich die verkammeroperte Frida mit dem nach Mexiko geflohenen und von ihr beherbergten Flüchtling Leo Trotzki befasste. Seit Salma Hayeks Film geht alle Welt davon aus, dass es eine Liaison zwischen dem entmachteten Chef-Vollstrecker der russischen Oktoberrevolution und der charismatischen Künstlerin leibhaftig gegeben habe. Die Häppchen-Kunst von Rodríguez lässt offen, ob die von ihr zitierten Briefstellen nun als Ausdruck von heimlicher oder unheimlicher Liebe genommen werden sollen. Mag es sich bei Trotzkis siegreichem Rivalen, dem welthistorisch bedeutsamen Strategen Stalin, den Kahlo mit ihrem letzten Bild heroisierte, möglicherweise um einen politischen Untoten handeln – Leib Bronschtein und dessen politisches Praxismodell sind hoffentlich mausetot und werden auch von Mexiko aus und mit mexikanischer Edelfolklore nicht wieder ins Leben gerufen.