Es gibt Momente, da wächst man über sich selbst hinaus. Arnold Schönberg vermochte es, als er in seinem zweiten Streichquartett die Grenzen eines überlebten Tonsystems überschritt. Den Musikern des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin gelang es, indem sie in der gerade zu Ende gegangenen Spielzeit diese Grenzüberschreitung in beispielhaftem Engagement klingend lebendig machten.
Ihr Chef Ingo Metzmacher wiederum tat es mit einer grandiosen Programmgestaltung, die schlagartig den Blick auf die ach so spröde Moderne veränderte und sie neuen Publikumsschichten erschloss. Dass die damit eröffneten Perspektiven ebenso schlagartig wieder zunichte wurden, steht auf einem anderen Blatt.
“Aufbruch 1909" war das Motto einer die Saison prägenden Konzertreihe, das von den umliegenden Veranstaltungen gestreift wurde und im Minifestival “Schönberg Underground” kulminierte. Das Jahr 1909 wird hier als “historische Wegmarke” des musikalischen Aufbruchs in die Moderne gesetzt - in diesem Jahr entstand das Monodram “Erwartung”, wurde Schönbergs Streichquartett Nr. 2 in Wien unter tumultartigen Unmutsbekundungen des Publikums uraufgeführt. Auch an - weitaus freundlicher aufgenommenen - politisch-technischen Innovationen war es reich: So landete in Berlin das erste Luftschiff (“Zeppelin”) in Anwesenheit des Kaisers unter den 25000 begeisterten Zuschauern; eine britisches Forscherteam näherte sich dem Südpol bis auf 176 km, in London stürmten die “Suffragetten” das Parlamentsgebäude. In Berlin entstanden die Siemens-Turbinenhalle, die Sternwarte in Treptow oder die Osram-Höfe. Als erstes Warenhaus wurde die “Friedrichstraßenpassage” im jüdischen Viertel an der Oranienburger Straße eröffnet; die Ruine der einstigen “Kathedrale der Waren” ist heute als “Kunsthaus Tacheles” Schauplatz vielfältiger Experimente, durchaus auch der Lebenskunst.
Ein idealer Aufführungsort für “Schönberg Underground” also, an dem wie in Schönbergs Musik die Moderne zunächst im Untergrund wirkt. Im ehemaligen Theatersaal, mit seinen von den Spuren der Zeit zerkratzten Wände an ein Gemälde von Dubuffet oder Tapies erinnernd, mit seiner zwischen Nachtbläue und Morgenröte oszillierenden Beleuchtung, den von außen einfallenden Geräuschen wilder Rockmusik oder vorbeirumpelnder Straßenbahnen entstand eine Durchlässigkeit zum “wirklichen Leben”, die der Musik neue Frische gab, sie gründlich aus dem Elfenbeinturm herausholte. Ein bunt gemischtes Publikum, keiner “Szene” eindeutig zuzuordnen, lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit - hier, das spürte man deutlich, entstand wirklich Kommunikation zwischen Musikern und ihren Zuhörern.
Und das Spiel war entsprechend intensiv: Mit dem Streichsextett “Verklärte Nacht” und dem Streichquartett Nr. 2 war der erste Abend den Anfängen gewidmet, führte von sich selbst verzehrender Chromatik zur Auflösung der Tonalität in “luft von anderen planeten”. Die Orchesterstreicher, angeführt von der fabelhaften Geigerin Katja Lämmermann, wurden hier jedem kammermusikalisch-solistischen Anspruch gerecht, agierten mit klanglicher Wärme und kluger Strukturierung. Sophie Klußmann war mit gut geerdetem, wissend interpretierendem Sopran d i e sängerische Entdeckung dieser drei Tage.
Schwerer tat sich Robin Johannsen tags darauf mit dem “Buch der hängenden Gärten”; zu fremd schienen der Amerikanerin die exotisch-esoterische Sprache Stefan Georges und die extrem gelagerte, von unerfüllter Erotik glühende Melodik noch zu sein. Die jugendstiligen “Herzgewächse”mit ihrem Klangreiz von Harfe, Harmonium und Celesta kamen ihr da besser entgegen. Das “Triebleben der Klänge”, zur Zwölftönigkeit drängend und verdrängte Gefühle “aus dem Untergrund” emportragend, äußerte sich in den “Drei Klavierstücken op. 11" (Dirk Mommertz) mit zugespitztem Konfliktreichtum, in den Orchesterstücken op. 16, die in Felix Greissles Bearbeitung für Kammerensemble erstaunlich farbig blieben, als unterschwellig unheilvolle Vorahnung. Es ist vielleicht die Konsequenz und Wahrhaftigkeit Schönbergs in der Materialbehandlung wie im Ausdruck, meint Ingo Metzmacher, die viele Zuhörer auch heute noch vor seiner Musik zurückschrecken, ihrer Wahrnehmung nicht offen sein lässt. Nicht jeder kann sich mit sich selbst so schonungslos konfrontieren lassen, dass er bereit wäre, seine eigenen Grenzen zu überschreiten.
Metzmacher selbst zeigte sich als versierter Pianist, begleitete gut gelaunt Measha Brueggergosman bei hinreißend koketten “Brettl-Liedern” und fügte sich ebenso klanglich delikat dem “Pierrot lunaire”-Ensemble ein - mit dem Mut zum Bizarren bot Salome Kammer hier eine ebenso faszinierende wie schlüssige Lesart.
Umrahmt war das kleine Festival von Sinfonie- und Kammerkonzerten, in denen die Zeitgenossen Zemlinsky, Busoni und Schreker sowie Ljadow und Roslawez mit ihren je eigenen “Aufbruchs”-Bestrebungen zu Wort kamen, auch von Rudi Stephan, 28-jährig im Ersten Weltkrieg gefallen, gab es endlich einmal wieder die “Musik für Orchester” zu hören. Bedenkt man, dass alle diese Werke - einschließlich Strawinskys “Sacre du Printemps” und Humperdincks 2. Fassung der hier konzertant aufgeführten “Königskinder” - aus den Jahren 1909/10 stammten, so war das hier entrollte Panorama umso faszinierender.
Den Schlusspunkt setzte “Schönberg on the ground” in der Philharmonie - während Gustav Mahler mit dem “Lied von der Erde” den wehmutsvollen Abschied von Überlebtem vollzieht, betritt Schönberg mit dem Monodram “Erwartung”, von Angela Denoke mit allen Facetten der Verstörung geboten, die offene Bühne einer durchgesetzten Atonalität. Die Tagung “100 Jahre Atonalität” wiederum, die kurz zuvor vom Staatlichen Institut für Musikforschung durchgeführt wurde, trug all diesen klingenden Erscheinungen kaum Rechnung, sondern erschöpfte sich im wissenschaftlichen Insider-Dialog über diverse “pitch-class-set”-Systeme zur Analyse der traditionell nicht mehr erfassbaren Vorgänge.
Innerhalb der heftig konkurrierenden Orchesterlandschaft Berlins habe er das DSO klar positioniert, betont Ingo Metzmacher. Das Orchester folgt damit einer Tradition, die sich aus seinem Rundfunkauftrag speist: mit seinem Einsatz für Vernachlässigtes und Unbekanntes für Bildung und Aufklärung zu sorgen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist da immer noch ein brisantes, zu wenig beackertes, weil politisch vermintes Feld. Und so holte Metzmachter schon zu Beginn seiner Amtszeit 2007/08 weit aus: “Von deutscher Seele” hieß sein erstes, um Hans Pfitzners berüchtigte Kantate zentriertes Projekt. Der scharfen Kritik an der Aufwertung eines ausgewiesenen Nazi- Sympathisanten begegnet der DSO-Chefdirigent mit dem Einwand, politische Einstufungen dürften nicht die Wahrnehmung der Musik verstellen, die oft genug eine ganz andere Sprache spreche. Ihn interessiert die “deutsche Seele”, die ebenso den “Aufbruch” in besonderer Radikalität vollzog wie sie sich mehr als andere für “Versuchungen” – Metzmachers Thema der nächsten Spielzeit – anfällig zeigte.
Hier wird Max von Schillings Franz Schreker und Arnold Schönberg konzertant begegnen - beide verjagte der Kulturfunktionär der Nazis von der Preußischen Akademie der Künste. Insgesamt ist der Dirigent davon überzeugt, dass Musik Botschaften in einer Sprache enthält, deren Verständnis er auch durch Präsentation von Zusammenhängen und Hintergründen befördern will. Auch durch neue Konzertformen wie die legeren “Casual Concerts” ist ihm das gelungen. Dass Metzmacher das DSO vorzeitig verlässt, um einen aus seiner Sicht klammheimlich verordneten Sparkurs nicht mittragen zu müssen, dass sein auf fünf Jahre angelegtes Projekt und damit auch der “Aufbruch 2009" für das hoch engagierte Orchester unvollständig bleiben muss, ist ein herber Verlust nicht nur für das Berliner Musikleben.