23 Jahre lang lehrte Sergiu Celibidache (1912–1996) als Honorarprofessor an der Mainzer Universität „Musikalische Phänomenologie“ – allerdings eher versteckt. Offiziell war die Veranstaltung beim Institut für Musikwissenschaft angesiedelt. Initiiert und finanziert wurde sie anscheinend von einem fachfremden Gönner, und hingehen konnte jeder Interessierte. Ihr Ort war der etwas heruntergekommene Alte Musiksaal, der als Mehrzweckraum diente. Nun erinnerte die Mainzer Musikhochschule, Nachfolge-Institution des früheren Fachbereichs Musikerziehung, anlässlich des 100. Geburtstages mit einem zweistündigen Symposium an „Sergiu Celibidache: Dirigent, Philosoph, Lehrer“.
Es war eine eigenartige Mischung, die sich vor drei Jahrzehnten im Halbdunkel des Alten Musiksaals um den Maestro scharte: Anhänger, Fans, Neugierige von überall her, dazwischen ein paar neugierige Studierende, darunter auch der Verfasser dieses Berichts. Dessen Erinnerungen sind inzwischen schemenhaft: Der Meister verkündete seine Wahrheiten und stellte den Schülern Fragen, oft mit schneidender Stimme, um ihnen danach meist ihr Nichtwissen vorzuführen. Dabei gab er sich mal sarkastisch, mal kryptisch, mal gönnerhaft. (Was mir unter der großen Schar eines Tages als einem von drei Privilegierten ein Stück Käsekuchen einbrachte – ohne jede Vorwarnung.)
Es war damals nur eine sporadische Berührung mit dem Geist der „Musikalischen Phänomenologie“. Das Studium ließ längere Präsenz kaum zu, und die Atmosphäre im düsteren Dachgeschoss empfand ich als eher unangenehm. Aber dennoch blieb etwas haften: Wie sich dieser merkwürdige Mensch mit einem tiefen Ernst bemühte, das Phänomen Musik zu verstehen, in die wirklichen Geheimnisse einer Partitur vorzudringen und einen Notentext zum Leben zu erwecken. Das traf sich mit Eindrücken aus dem musikwissenschaftlichen Seminar bei Hellmuth Federhofer, der – damals schon ein Außenseiter der deutschsprachigen Musikwissenschaft – uns mit den Theorien von Ernst Kurth und Heinrich Schenker bekannt machte. Und es prägte, im Nachhinein gesehen, wohl doch das eigene Machen und Hören von Musik.
Mitveranstalter des Symposiums waren die in Mainz residierende Deutsch-Rumänische Akademie und die Stadt Mainz, und so sprachen neben Hochschulrektor Prof. Ludwig Striegel auch Akademie-Vizepräsident Radu Florin Nicolescu und Oberbürgermeister Michael Ebling respektvolle Grußworte. Mark Mast, Chefdirigent der Bayerischen Philharmonie in München und Schüler Celibidaches, stellte mit einer sympathischen Balance zwischen Sachlichkeit und Verehrung die Biographie seines Lehrers dar und präsentierte dabei auch Unbekanntes: Bilder aus dem Familienalbum, die Erkenntnis, dass Celibidache während seines Studiums in Berlin 1936–1945 auch Studentenorchester und Straßenbahner-Chöre leitete, den Hinweis auf Kompositionen.
Im Nachlass fand sich eine bislang unbekannte „Kleine Sinfonie“ von 1945, und die Partitur der „Rumänischen Suite“ steht vor der Uraufführung und dem Erscheinen im Mainzer Musikverlag Schott. Eindrücklich war, wie Mast die familiäre Konstellation darstellte: Dort der ehrgeizige Politiker-Vater, der dem Sohn die musikalischen Ambitionen nicht zugestand und ihm die Tür wies, dort der unversöhnliche Sohn, der als erfolgreicher Dirigent dem Vater trotz dessen Entschuldigungen nicht verzeihen konnte. „Für Sergiu Celibidache war Lehren das höchste menschliche Tun“, war schließlich ein zentraler Satz. Mast folgt hierin seinem Lehrer und betreibt mit den sieben Klangkörpern der Bayerischen Philharmonie eine intensive musikalische Breitenbildung, Nachwuchs- und Spitzenförderung.
Jürgen Blume, Professor für Musiktheorie und Komposition an der Mainzer Musikhochschule, versuchte sich der „Musikalischen Phänomenologie“ aus der Außensicht zu nähern. Angesichts der widersprüchlichen und undurchsichtigen Aussagen Celibidaches war dies ein schwieriges Unterfangen von beschränktem Ertrag. Bemerkenswert war Blumes Hinweis, dass der von Celibidache und auch Wilhelm Furtwängler sehr geschätzte Musiktheoretiker Heinrich Schenker (1868–1935) auch in der deutschen Musikwissenschaft wieder größere Resonanz findet. Hier hätte man fragen können, warum Celibidache sich in die von Schenker abgelehnte Musik Anton Bruckners vertiefte und gerade damit besondere Resonanz fand.
Im Nachhinein drängen sich auch weitere Überlegungen auf: Wie passten eigentlich Celibidaches Studienfächer Musik, Mathematik und Philosophie zueinander, und was bedeutete es für seine geistige Prägung, diese Studien ausgerechnet im Berlin der Nazi-Zeit zu absolvieren? Welche Rolle spielte sein Kompositionslehrer Heinz Tiessen, dessen (im Rundfunk übertragenes) Streichquartett ihn so fasziniert hatte, für sein Komponieren und Dirigieren, und welche Rolle der durch den Schriftsteller Martin Steinke vermittelte Buddhismus? Wichtig waren Blumes aktuelle Bemerkungen zur Aufführungspraxis: Wie verträgt sich Celibidaches ertragreiches Insistieren auf voller Entfaltung des Klanges mit der starken Tendenz der Interpreten zur Beschleunigung der Tempi? Und wie das Bemühen um feingliedrige Artikulation mit dem Gespür für den großen Bogen in der Tradition Furtwänglers und Schenkers?
Octavian Calleya, Dirigent im spanischen Malaga, kämpfte in seinem Vortrag tapfer mit der deutschen Sprache, mehr noch aber mit seiner Begeisterung für den Meister, den er „den größten Dirigenten der Geschichte“ nannte. Celibidache habe da angefangen, wo andere Dirigenten aufhörten und die theoretischen Erkenntnisse Schenkers in die Praxis umgesetzt. Als Person sei er letztlich „ein großes Paradoxon“ gewesen. „Wieviel junge Leute sind hier? Haben Sie eine Dirigentenklasse?“ fragte Calleja ins Publikum, nicht zu Unrecht erschüttert vom hohen Durchschnittsalter der Zuhörer. Tatsächlich wären nicht nur die Vorträge und das abschließende Podiumsgespräch, sondern auch die gezeigten Filmausschnitte „Celibidache als Lehrer“ und „Celibidache als Dirigent“ durchaus instruktiv für Studierende gewesen. Hier stellte sich am Rande einmal mehr die Frage, wie viel Zeit und Raum die durchstrukturierten Studiengänge für die persönliche Orientierung lassen. Mark Mast sagte beim Podiumsgespräch über seine fünf Jahre als Privatschüler Celibidaches: „Dort sind mir als Musiker und Mensch die wesentlichen Fragen gestellt, und im persönlichen Erlebnis viele beantwortet worden.“ Die Ausbildung davor an der Musikhochschule hingegen habe dazu kaum beigetragen.
Peter Michael Hamel, Komponist aus Hamburg, berichtete in wenigen Minuten außerordentlich lebendig von seinen Begegnungen mit Celibidache, die zu wachsender Nähe führten. 1988 dirigierte der Ältere in München die Uraufführung von Hamels Sinfonie „Die Lichtung“ – besonders bemerkenswert, weil er in seinem ganzen Leben nur drei zeitgenössische Stücke zur Uraufführung annahm. Hamel zitierte ein Gespräch mit Celibidache, nachdem er ihm als erstes Stück eine Cluster-Partitur präsentiert hatte: „Sehr schöne Klänge, aber keine Musik!“ – „Aber was ist Musik?“ – „Das kann ich dir nicht sagen.“ – „Wie soll ich es denn erfahren?“ – „Ja, dann kommst du mal nach Mainz, oder in die Proben.“ In Erfahrungen wie diesen scheint hinter Celibidache das Bild eines buddhistischen Zen-Meisters auf, der seine Schüler mit unlösbaren Paradoxen konfrontiert, um sie auf den Weg der Erleuchtung zu bringen. Und tatsächlich bekannte Mast: „Es war ein ungeheuerliches Erlebnis, ihm zu begegnen, und man war immer mit sich selbst konfrontiert.“ Hamel erzählte, Celibidaches berühmten Satz: „Man will nichts, man lässt entstehen“ habe er ganz ähnlich von John Cage gehört. Beide Künstler hätten dasselbe Buch gelesen, „Die große Befreiung“ des japanischen Zen-Meisters Daisetz Teitaro Suzuki.
Keine persönlichen Anekdoten beizutragen hatte der New Yorker Geiger Rony Rogoff, langjähriger Freund und künstlerischer Partner Celibidaches und an der Mainzer Musikhochschule durch einen Meisterkurs präsent. Er sprach stattdessen von seinem gerade zurückliegenden Rumänien-Aufenthalt auf den Spuren des Freundes. Celibidache sei als gebürtiger Rumäne stets sehr stolz auf die deutsche Kultur gewesen. Heute sehnten sich junge Künstler in Rumänien danach zu lernen. „And they look up to German culture.“ Was am Ende noch eine aktuelle Frage aufwirft, nämlich die nach der deutschen Verantwortung für Bestand, Entwicklung und Ausstrahlung der eigenen Kultur. Aber das ist ein anderes Kapitel.