Das schreckliche Ereignis in Winnenden hat erneut eine Debatte über die Gründe von Jugendgewalt ausgelöst. Schnell werden vermeintliche Antworten gefunden. Eine beständig diskutierte Ursache für Jugendgewalt ist die Flucht der Jugendlichen in virtuelle Welten mittels Computerspielen, in denen obszöne Gewalt ausgelebt werden kann. Manche dieser Jugendlichen, so die These, können irgendwann nicht mehr zwischen der virtuellen Welt und der Realität unterscheiden und werden zu Tätern.
Und was bieten wir diesen Realitätsflüchtlingen als Therapie an? Eine „Schutzimpfung durch Musik“. Seit der Kriminologe Christian Pfeiffer auf dem Musikschulkongress 2007 in Mannheim die sozial verbindende Kraft der Musik, die Lust am gemeinsamen Musizieren, als eine musikalische Schutzimpfung für Jugendliche postuliert hat, wird sogar das vom ehemaligen Innenminister Otto Schily geprägte Bonmot „Wer Musikschulen schließt, schadet der Inneren Sicherheit“ noch einmal verbal übertroffen. Uns freuen diese Äußerungen sehr, sind sie doch auch gewichtiges Argument, wenn es um die Finanzierung von Kultureinrichtungen geht, und bestätigen sie uns doch, dass wir auf pädagogisch absolut dem richtigen Weg sind. Sind wir das wirklich?
Auffallend ist, dass gerade männliche Jugendliche solche schrecklichen Taten wie in Winnenden verüben. Hier mehren sich die Hinweise, dass im bestehenden System der vorschulischen und schulischen Bildung Jungen gegenüber Mädchen benachteiligt werden und besonders überfordert sind.PISA hat die Marschrichtung vorgegeben. Nur kognitives Wissen ist der Maßstab für Erfolg. Der große Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi sagte dagegen, jede Form der Ausbildung müsse das „Hirn“, die „Hand“ und das „Herz“ ansprechen. Wir aber sprechen fast nur noch das „Hirn“ an. Das gilt für die Schule, immer öfter auch schon für den Kindergarten und für die außerschulische Bildung.
Welche Eltern bekommen nicht Herzrasen, wenn ihre Kinder möglicherweise nicht gymnasial tauglich sind. Das hat nichts mit übersteigertem Ehrgeiz der Eltern zu tun, sondern geschieht aus Fürsorge für den Nachwuchs, der ohne Abitur heute fast chancenlos in unserer Gesellschaft ist. Deshalb zwingen Eltern ihre Kinder schon im Kindergarten Mandarin und Englisch zu lernen. Schon ab der ersten Klasse sind ständige Leistungsvergleiche üblich. Und was sind unsere Bildungsminister stolz darauf, die Gymnasialzeit um ein Jahr verkürzt zu haben, ohne die zu lernende Stoffmenge anzupassen.
Und dann haben Forscher auch noch herausgefunden, dass Menschen, die ein Instrument lernen, damit oft ihre Intelligenzleistungen verbessern. Wer ein Instrument spielen lernt, so wird behauptet, schult damit auch sein logisches und mathematisches Denken. Es lebe das Hirn, und es lebe „Jedem Kind ein Instrument“ zur Verbesserung der kognitiven Möglichkeiten aller Grundschulkinder im Ruhrgebiet und in Hamburg.
Kinder und Jugendliche sind immer öfter überfordert. Mädchen kommen anscheinend mit der PISA-gerechten Form der Schule besser zurecht als Jungen. Was machen die, meist männlichen, Jugendlichen, deren Stärke nicht das „Hirn“, sondern eher die „Hand“ ist? Die verziehen sich mal gleich besser in den Keller und flüchten in eine virtuelle Welt, denn die reale Welt braucht diese Looser wirklich nicht. Und wir mit unseren Konzerthäusern, Museen, Musikschulen und vielen anderen wichtigen Bildungseinrichtungen stehen ebenfalls auch nicht für „Hand“. Auch wir sind ein Teil dieser Entwicklung, die gerade männliche Jugendliche und Jugendliche aus so genannten bildungsfernen Schichten ausgrenzt. Das Jugendkulturbarometer förderte im Jahr 2006 zu Tage, dass von Kindern und Jugendlichen, die eine außerschulische kulturelle Bildungseinrichtung besuchen, gerade einmal acht Prozent Hauptschüler sind. Das heißt 92 Prozent der Nutzer von Musikschulen und anderen Einrichtungen der kulturellen Bildung besuchen die Realschule oder das Gymnasium. Das kulturelle Bildungsangebot wird also vor allem von jenen Kindern und Jugendlichen angenommen, die bereits zur „Bildungselite“ in unserem Land gehören und eine höhere Schule besuchen.
Verstärkt wird diese soziale Selektion noch dadurch, dass Hauptschüler auch in ihrer Schulzeit wenig Gelegenheit erhalten, Kultureinrichtungen kennenzulernen. Nur 15 Prozent der Hauptschüler haben in ihrer gesamten Schulzeit mindestens ein Mal eine Kultureinrichtung besucht. Demgegenüber sind es bei den Gymnasiasten immerhin 50 Prozent. Spannend werden diese Daten, wenn man sie damit vergleicht, dass Kinder und Jugendliche sich vor allem dann aktiv für Kunst und Kultur interessieren, wenn sie eine Kultureinrichtung besucht, also professionelle Kunst kennengelernt haben. Entgegen aller Erwartungen scheint der Schulunterricht in Kunst und Musik einen geringen Einfluss auf das Kulturinteresse zu haben.
Die geringere Nutzung von Angeboten kultureller Bildung heißt aber nicht, dass Jugendliche Künstler nicht als Vorbilder sehen. Besonders Popmusiker und Bildende Künstler gehören, das kann man ebenfalls dem Jugendkulturbarometer entnehmen, zu den Idolen und künstlerischen Vorbildern von Jugendlichen. Da stehen Eminem, Britney Spears, Robbie Williams neben Picasso, Dalí und van Gogh. Da gilt es für die so genannte Ernste Musik noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.
Doch eine Chance bleibt uns immer. Wir können Pestalozzis drittes Ausbildungspostulat, das „Herz“, in Form von Anerkennung und Respekt für Jugendliche, die vermeintlich nicht zur Leistungselite gehören, benutzen. Dann wird die Verbesserung von Intelligenzleistungen nicht mehr als Grund herhalten müssen, warum Kinder ein Instrument spielen können sollen. Wir könnten zeigen, dass gerade Musik machen nicht für „Hirn“, sondern für „Herz“ steht und deshalb gerade männliche Jugendliche, die kein Gymnasium besuchen, ihren Platz in den Musikschulen finden müssen.