Man darf nicht ungerecht und vergesslich sein: Die „Neue Musik“, im weitesten Sinn des Begriffs, ist in Deutschlands Norden, in Kiel oder Lübeck, so unbekannt nicht. In Lübeck haben in den fünfziger und frühen sechziger Jahren Arno Wüstenhöfer als Intendant der Oper und der Regisseur Kurt Horres immer wieder mit neuen Werken bekannt gemacht, in Kiel ist die lange Intendantenzeit Joachim Klaibers mit den Generalmusikdirektoren Peter Ronnefeld (auch ein genialer Komponist, leider allzu früh verstorben) und Hans Zender (bis heute einer der wichtigsten deutschen Komponisten der Gegenwart), noch in lebendigster Erinnerung. Auch in der Intendantenzeit von Peter Dannenberg gab es zahlreiche Bemühungen um zeitgenössische Musik. Gleichwohl fehlte es in Deutschlands Norden, speziell in den letzten ein oder zwei Jahrzehnten, an einer intensiveren Beschäftigung mit der aktuellen Musik, wie diese beispielsweise regelmäßig auf den Musikfestivals in Donaueschingen, Witten oder bei Stuttgarts „Eclat“ vorgestellt wird.
Immerhin gab es in Schleswig-Holstein Menschen, die diesen Mangel an Information beklagten, und so entstanden vor zwei Jahren die Kieler Tage für Neue Musik, die sich zugleich einen griffigen Titel zulegten: „Chiffren“ – ein mehrdeutiger Begriff, der für Verschlüsselungen steht, aber auch für „Dechiffrieren“ – das Aufdecken der komplizierten Strukturen und Sprechweisen der Musik der Gegenwart. Der Erfolg der ersten „Chiffren“ überraschte selbst die Veranstalter, das „Forum für zeitgenössische Musik“ an der Kieler Universität, das Land Schleswig-Holstein und die Stadt Kiel, wobei sich die beiden letzteren über das Finanzielle hinaus auch inhaltlich intensiv an der Gestaltung der Musiktage beteiligten. Für das Land agierte dabei Gabriele Nogalski wie eine zweite Intendantin neben Forums-Leiter Friedrich Wedell – ein derartiges Engagement der öffentlichen Hand findet man selten und es verdient hohes Lob.
Schon bei den ersten „Chiffren“ zeigte sich, dass ein Festival Neuer Musik sich nicht auf die Aufführung einiger neuerer Werke beschränken sollte. Ebenso wichtig erscheint es, dass das „Neue“ vom Publikum auch verstanden wird. Das fast magisch beschworene Wort „Vermittlung“ hat derzeit und mit einigem Recht Hochkonjunktur. Weshalb auch Kiels „Chiffren“ vom „Netzwerk Neue Musik“ aus der Bundeskulturstiftung für die nächsten Jahre eine Unterstützung von 500.000 Euro erhalten. Damit werden nicht nur die drei Tage mit Neuer Musik gefördert, sondern sozusagen „immerwährende Tage“, zunächst bis 2011, an denen Musiklehrer Kompositionsunterricht erhalten, um ihr Wissen an Schüler weiterzugeben, an denen ein „composer in residence“ für Kompetenz sorgt, an denen junge Musiker in einem Landesorchester sich mit neuen Partituren vertraut machen. Dies nur als einige Beispiele für die umfangreichen Aktivitäten der kommenden „Chiffren“-Zeiten. Das Zauberwort „Vermittlung“ darf aber nicht dazu führen, dass dabei das aus dem Blick gerät, was eigentlich vermittelt werden soll: nämlich das Musikwerk selbst. Wenn Geld nur mehr für Vermittlung bereitsteht, dann dürfte sich eines Tages die groteske Situation ergeben, dass Vermittlung mangels Masse (neuer Werke) sinnlos wird.
Die „Kieler Tage der Neuen Musik“ haben gegen solche Gefährdungen einige Barrieren errichtet. Mit dem Frankfurter „Ensemble Modern“ gelang es, eine Spitzenformation der Moderne zu engagieren. Zwar hörte man keine Uraufführungen, aber das Konzert unter dem Titel „West meets East meets West“ bot mit Werken von Claude Vivier, Tan Dun, Manfred Stahnke, Isang Yun und Dieter Mack aufschlussreiche Beispiele für die Wechselbeziehungen zwischen kompositorischen Stilen und den Amalgamierungen westlichen und fernöstlichen Komponierens. Ein weiteres Konzert mit dem Berliner „ensemble mosaik“ stellte neuere Werke in verschiedenen Besetzungen von Harald Muenz, Stefan Streich, Michael Beil, Orm Finnendahl und Enno Poppe in ausgefeilten Wiedergaben vor. Das „ensemble reflexion K“ aus dem benachbarten Eckernförde, das seit einiger Zeit noch vor den „Chiffren“ das Banner der Neuen Musik im Norden hochgehalten hat, zeigte seine Kompetenz an Werken von Nicolaus A. Huber, Sergej Newski, James Saunders, Nils Rønsholdt, Gordon Kampe und Gerald Eckert, dem Leiter des „ensemble reflexion K“, dessen „Studie über Nelly Sachs“ in einer erweiterten Fassung uraufgeführt wurde. Wie schon bei den ersten „Chiffren“ vor zwei Jahren gab es auch wieder eine „Matinee junge Musik“, bei der unter anderem Preisträger des „Jugend musiziert“-Wettbewerbs mitwirkten. Auch die gern geübte Podiumsdiskussion fehlte nicht: Zum Thema „Treibhaus für drei Tage?“ (mit Fragezeichen) tauschten unter der Gesprächsleitung von Theo Geißler (neue musikzeitung) unter anderem Christine Fischer („Musik der Jahrhunderte“, „Eclat“-Festival Stuttgart), der Komponist Moritz Eggert und Gitta Connemann (Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“) ihre Gedanken aus. Man sieht: Kiels „Chiffren“ werden auch überregional beachtet. Die „Neue Musik“ in Deutschland hat ein weiteres Standbein hinzugewonnen. ?