Dass es im Jahr 2010 zur szenischen Uraufführung einer Schubert-Oper kommt, ist ein denkwürdiger Moment. Franz Schuberts „Sakontala“ hat eine lange Geschichte. Der Komponist begann die Arbeit im Oktober 1820, brach sie dann aber im Frühjahr 1821 ab – vermutlich weil die Hofoper zur Uraufführung Louis Spohrs Oper „Zemire et Azor“ angenommen hatte, mit der es zahlreiche inhaltliche und atmosphärische Übereinstimmungen gab. Elf Szenen des Fragments liegen im Partitur-Entwurf vor, der sich größtenteils auf die tragenden Melodiestimmen und den Bass beschränkt.
Nachdem das verschollene Libretto 2002 in der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek wiedergefunden wurde, ließ sich die Reihenfolge der Musikstücke bestimmen, und der dänische Komponist Aage Rasmussen komplettierte Schuberts Entwurf behutsam bis dahin, wo Musik und Handlung abbrechen. 2006 erlebte diese Version ihre konzertante Uraufführung bei den Herbstlichen Musiktagen in Bad Urach unter Frieder Bernius. Über die daraus entstandene CD-Aufnahme wurde das Staatstheater Saarbrücken auf das Werk aufmerksam.
Schuberts Librettist Johann Philipp Neumann griff auf das Drama „Śākuntala“ des altindischen Dichters Kālidāsa zurück, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa Furore gemacht hatte und im Jahr 1800 in der deutschen Übersetzung von Georg Forster in Wien erschienen war. In Neumanns Version hat sich der König Duschmanta in Sakontala, die Pflegetochter des Eremiten Kanna verliebt. Sie erwidert diese Gefühle, und der König will sie offiziell zu seiner Frau machen. Doch bevor sie an den Hof reist, wird Sakontala von Durwasas, einem Feind ihrer Mutter, verflucht: Der König wird sie nicht wiedererkennen, es sei denn an ihrem Ring. Doch diesen lässt Durwasas bei einer rituellen Reinigung verschwinden. So kommt es bei Hof zu einem großen Skandal, und Sakontala wird verstoßen. Als sich jedoch der Ring im Magen eines Fisches findet und dem König überbracht wird, kehrt die Erinnerung zurück. Mit Hilfe der Götter schwebt Sakontala zurück zum Palast. Die beiden Liebenden sehen sich wieder, können sich aber nicht begegnen. Sakontalas Pflegevater Kanna, einer Art Sarastro-Figur, rät ihnen, weiter auf die Götter zu vertrauen. Hier endet Schuberts Fragment.
Berthold Schneider, Operndirektor am Staatstheater, schreckt verständlicherweise davor zurück, diese Geschichte in naivem Exotismus nachzuerzählen. Stattdessen bemüht er sich, dem Publikum das moderne und das alte Indien in einer Art multimedialen Revue nahezubringen. Er hat Neumanns Dialoge durch eigene ersetzt, in denen die Sakontala-Geschichte von Europäern aus skeptischer Distanz nacherzählt wird. Durch Andeutung einer Arena wird die Ästhetik der Guckkastenbühne durchbrochen; Akteure spielen aus dem Publikum und von den Rängen, und in den vorderen Parkettreihen ist ein Steg mit einem großen Videobildschirm aufgebaut. Weitere Bildschirme auf der Bühne zeigen Bilder aus dem heutigen Indien. Dazu gibt es einen Comic über verschiedene traditionelle Formen der Heirat, man erlebt in Bild und Ton einen indischen Heimarbeiter, der seinem deutschen Auftraggeber den Tag organisiert, der Performance-Künstler Skall zelebriert indische Akrobatik, und schließlich fährt sogar der Kleinwagen „Nano“ des indischen Herstellers Tata auf die Bühne.
Schubert und Neumann ging es seinerzeit wohl weniger um Indien, sondern eher um ein Fantasie-Land, in das sich Autoren und Publikum hineinträumen konnten. Aktuelle und gesellschaftskritische Sujets waren im Wien der Ära Metternich auf der Opernbühne bekanntlich verboten. So thematisiert Schuberts „Sakontala“ auf märchenhaft stilisierte Weise Erfahrungen wie Liebessehnsucht, Liebesleid und Liebesfreud’ und zeigt den einzelnen im Widerstreit guter und böser Mächte und beim Ringen mit seinem Schicksal. Einzig das Terzett zu Beginn des 2. Aktes, in dem zwei Häscher den armen Fischer kontrollieren, kann man als versteckten Hinweis auf unerfreuliche Begegnungen mit der Staatsmacht lesen.
Schuberts Musik handelt zumeist liedhaft von verschiedenen „Ich-Zuständen“, beschwört aber an dramatische Stellen immer wieder den Einbruch höherer Instanzen in die lyrische Sphäre herauf. Undenkbar aber wäre zu Biedermeier-Zeiten auf der Bühne jene Passage aus Kālidāsa originaler „Śākuntala“ gewesen, die Berthold Schneider in englischer Übersetzung vortragen lässt: Demnach ist Sakontala bereits schwanger von Duschmanta, und der Vater zunächst nicht willens, seinen Sohn anzuerkennen.
Auf der Saarbrücker Bühne setzt sich Duschmanta irgendwann ans Steuer des hochzeitlich geschmückten Nano-Autos, auf dessen Dach Sakuntala kauert. Vor einer eindrucksvoll dahinsausenden nächtlichen Stadtsilhouette gibt es eine rasante Fahrt, bei der der Lenker am Ende aus dem Wagen geschleudert wird. Da spätestens hat es aber auch eine Inszenierung aus der Kurve getragen, in der es von Anfang an kaum um Schubert geht. Man mag seine Art des linearen Erzählens und intensiven Fühlens für altertümlich und verstaubt halten, hingegen postmodernes Totaltheater, mediale Aufrüstung und coole Patchwork-Ästhetik für das Nonplusultra heutiger Regiekunst – zusammen kommt beides nicht.
Und so haben Schneiders Regie und Veronika Wittes Raumkonzept auch einen musikalischen Preis: Die Texte der Arien und Ensembles sind schlecht zu verstehen, besonders wenn die Sänger dem Publikum den Rücken zukehren. Starkes Vibrato der Stimmen überfrachtet liedhafte Stellen mit unangebrachtem Pathos. Die Intonation in den Höhen gerät oft unsauber. Dissonanzen und Modulationen erscheinen ungenügend durchgehört, musikalische Spannungskurven zu wenig gestaltet. Unter den durchweg engagiert auftretenden Sänger-Darstellern überzeugt als einziger wirklich Hiroshi Matsui in der Rolle des Kanna. Klangfarben und Tempi hingegen wirken ausgewogen und stichhaltig, und so gelingt dem Saarländischen Staatsorchester unter Christophe Hellmann hinter allem Rummel und Lärm doch ein klares Plädoyer für Schuberts „Sakuntala“ und Rasmussens einfühlsames Arrangement.