Margarete A. lebt in einem Oggersheimer Seniorenheim. Körperlich ist die 81-Jährige noch recht fit, doch das Gedächtnis lässt sehr nach und auch die Orientierung im Heim fällt ihr schwer. Sie hat Schwierigkeiten, ihre Kinder und Enkel zu erkennen. Kommt jemand zu Besuch, fragt sie schamhaft, wer man sei: „Du bist doch der Eckart?“ Die vielen vermeintlich fremden Menschen verwirren die Frau, und sie reagiert dann oft ängstlich und mit Rückzug. Aber ein Strahlen legt sich auf ihr Gesicht, sobald man eine CD mit Schlagern in den Spieler legt: Dann lebt die Patientin auf, summt mit und kann sogar einige Texte von Peter Alexander mitsingen. Ihre Stimmung ist deutlich aufgeräumter, und das hält dann ein paar Stunden an, sie erzählt dann auch von ihrer Jugendzeit in Berlin.
Musikalisch gegen das Vergessen
Diese Musikwirkung kennen vermutlich alle, die mit Demenzpatienten umgehen. Durch Musik können lang verschüttete biografische Erinnerungen wieder zugänglich gemacht und die Stimmung stabilisiert werden. Oft werden so für eine Weile die eigene Identität erinnert und die vorherrschenden Angstgefühle gelindert. Das Schlimme an der fortgeschrittenen Demenzerkrankung ist ja, dass das eigene Leben nicht mehr vorhersagbar und kontrollierbar ist und dass es keine stabilen menschlichen Beziehungen gibt, die auf gemeinsam erinnerten Erlebnissen beruhen. Immer wenn ein Mensch das Zimmer betritt, ist es ein potenziell bedrohlicher Fremder.
Demenz ist ein Oberbegriff für eine Reihe von Symptomen, die mit dem fortschreitenden Verlust kognitiver Fähigkeiten einhergehen. Wie Frau A. erleben Betroffene Einschränkungen in Bereichen wie Gedächtnis, Denken, Orientierung, Sprache und Entscheidungsfähigkeit. Diese Beeinträchtigungen gehen über das normale Maß altersbedingter Veränderungen hinaus und wirken sich erheblich auf den Alltag aus. Die Krankheit tritt meist schleichend auf und verschlimmert sich mit der Zeit. Zu den häufigsten Formen zählen die Alzheimer-Demenz (circa 60 bis 70 Prozent der Fälle) und die vaskuläre Demenz (circa 25 Prozent der Fälle). Letztere ist durch Durchblutungsstörungen im Gehirn bedingt.
Risikofaktoren
Demenzerkrankungen haben die letzten Jahrzehnte enorm zugenommen. Derzeit gehen wir in Deutschland von 1,7 Millionen Betroffenen aus. Grund für den Anstieg ist einerseits das höhere Alter, das wir erreichen, andererseits auch eine Zunahme von Risikofaktoren. Die Deutsche Alzheimer-Forschung nennt 14 Risikofaktoren, die zu einem erheblichen Teil vermeidbar sind. Ich habe sie hier nach Wichtigkeit absteigend aufgeführt: geringe Bildung, eingeschränkte Hörfähigkeit, hoher Cholesterinspiegel, Depressionen, Kopfverletzungen, Bewegungsmangel, Diabetes, Rauchen, Bluthochdruck, starkes Übergewicht, übermäßiger Alkoholkonsum, soziale Isolation, Luftverschmutzung, Einschränkungen der Sehkraft.
Allen Demenzformen gemeinsam ist, dass Musik die Symptome lindert. So kann rhythmische Musik mit höherem Frequenzanteil die Erkrankten deutlich aktivieren. Ursache dafür ist, dass Musik im Hirnstamm – einem entwicklungsgeschichtlich sehr „alten“ Teil des Gehirns – die Nervenverbindungen aktiviert, die Wachheit programmieren. In den sensomotorischen Zentren des Großhirns wird bei den Betroffenen der Bewegungsapparat angesprochen, denn rhythmische Musik ist auch als Bewegungsprogramm, als „Tanzbewegung“ abgespeichert. Diese neuronalen Netzwerke sind sehr stabil und verlieren erst bei sehr fortgeschrittener Demenz ihre Funktion. Auch die Nervenzentren, die in der Hörrinde liegen, sind vom Absterben der Nervenzellen erst sehr spät betroffen. Das heißt, selbst wenn die Demenz sehr weit fortgeschritten ist und Sprachfähigkeit, räumliche Orientierung und biografisches Gedächtnis weitgehend verloren sind, kann die Musik diese Patienten noch erreichen und zur Entspannung und Angstlösung beitragen.
Initiativen
Mittlerweile gibt es zahlreiche Initiativen, die sehr erfolgreich in Pflegeheimen und geschlossenen Psychiatrien eingesetzt werden. Beispielhaft sei hier das Hannoveraner Projekt „Klang und Leben“ genannt. Professionelle Musikerinnen und Musiker spielen vor Demenzbetroffenen live Lieder und Chansons, die in deren Jugend auf den Hitlisten standen. Häufig begleiten auch Tanzeinlagen das Programm.
Einziger Wermutstropfen: Trotz der vielen anekdotischen Berichte über die positiven Auswirkungen der Musiktherapie bei Demenzkranken sind die streng wissenschaftlichen Beweise rar. In einer Übersichtsarbeit haben Aimee Baird und Séverine Samson die Befunde zum musikalischen Gedächtnis bei Alzheimer-Patienten zusammengefasst[1]. Dabei unterscheiden sie das explizite und das implizite musikalische Gedächtnis. Unter dem expliziten musikalischen Gedächtnis verstehen sie die Fähigkeit, früher gehörte Lieder oder Musikstücke korrekt zu benennen (semantisches explizites Gedächtnis), sie als bekannt zu erkennen oder zum Beispiel fehlerhafte Melodien zu bemerken. Auch die Fähigkeit, sich an die Lebensumstände zu erinnern, in denen diese Lieder eine wichtige Rolle spielten, wird als episodisches Gedächtnis zum expliziten Gedächtnis gezählt. Das implizite Gedächtnis für Musik zeigt sich im unbewussten Behalten zuvor gehörter Melodien oder in der Fähigkeit, ein Musikinstrument zu spielen.
Das musikalische Gedächtnis
Bei Sichtung der veröffentlichten Fallberichte und der wenigen systematischen Studien zu diesem Thema wird offenkundig, dass Demenz-Patienten deutliche Störungen des expliziten musikalischen Gedächtnisses aufweisen. Dies lässt sich neurobiologisch mit den typischen Veränderungen der Hirnstruktur infolge der Erkrankung begründen: Das explizite musikalische Gedächtnis beruht überwiegend auf Funktionen des unteren inneren Anteils des Schläfenlappens, des Hippocampus, der bereits im Frühstadium von den neuropathologischen Veränderungen bei Alzheimer-Demenz betroffen ist. Anders verhält es sich beim impliziten Gedächtnis. Musiker, die an Alzheimer-Demenz erkranken, sind oft noch erstaunlich lange in der Lage, ihr Instrument sehr gut zu spielen. Es existieren sogar Fallberichte, dass neue Stücke gelernt werden konnten.
Die strengsten Bewertungen von Therapien erstellt das Cochrane-Netzwerk. Die dort mitwirkenden Wissenschaftler, Ärzte und Statistiker beurteilten Therapiestudien nach sehr strengen wissenschaftlichen Kriterien. Die Überprüfung der 22 qualitativ ausreichenden Therapiestudien mit insgesamt 890 Demenzkranken ergaben demnach eine „mäßig sichere“ Evidenz, dass musikbasierte Behandlungen die Symptome von Depressionen und allgemeinen Verhaltensproblemen lindern, jedoch nicht agitiertes oder aggressives Verhalten. Musik kann wahrscheinlich Angst und emotionales Wohlbefinden einschließlich der Lebensqualität verbessern. Musikbasierte Interventionen haben möglicherweise nur geringe oder keine Auswirkungen auf das Denken und die soziale Interaktion. In einigen Studien wurde auch untersucht, ob es vier Wochen oder länger nach Behandlungsende nachhaltige positive Auswirkungen gab, aber auch diese Untersuchungen ergaben keine eindeutigen Ergebnisse. Im Schlusssatz fordern die Autorinnen eine Fortsetzung der Forschung[2].
Auch wenn diese Feststellungen etwas ernüchternd sind, möchte ich an dieser Stelle eine Lanze für die Musiktherapie bei Demenzkranken brechen. Zunächst einmal: Diese Studie ist 6 Jahre alt und neuere Untersuchungen zeichnen ein positiveres Bild. Ein noch wichtigeres Argument ist jedoch, dass sich viele Effekte einer strengen wissenschaftlichen Nachweisbarkeit entziehen. So ist es schwierig, mit Demenzkranken den „Goldstandard“ wissenschaftlicher Therapieforschung einzuhalten. Dies würde nämlich erfordern, eine große Gruppe Demenzkranker nach Zufall entweder mit einer standardisierten Musikintervention oder einer Kontrollintervention zu behandeln sowie davor und danach zuverlässig aussagekräftige Messgrößen zu erheben – am besten, ohne dass die Auswerter wissen, wer von den Patienten in der Musikgruppe und wer in der Kontrollgruppe war. Die Probleme liegen auf der Hand: Es gibt große Unterschiede zwischen den Demenzkranken, und meist leiden sie auch noch unter anderen Alterskrankheiten. Die geistige Leistungsfähigkeit ist tagesabhängig und schwankt sogar im Tagesverlauf. Zudem ist jede musikalische Biografie ebenfalls einzigartig. Dennoch sind viele Effekte der Musiktherapie in der individuellen Beziehung zwischen Therapeuten und Patient ganz deutlich zu spüren – für Behandelnde und Angehörige gleichermaßen.
Ein letzter Abschnitt sei der Frage gewidmet, ob man mit Musikhören und Musizieren einer Demenz vorbeugen kann. Auch dazu gibt es leider nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Grundsätzlich gilt: Je höher die geistige Regsamkeit im Erwachsenenalter war, desto später und seltener tritt Demenz auf. Dies wird mit dem Konzept der kognitiven Reserve erklärt: Je schärfer das Denken, je besser trainiert das Gedächtnis, je weitgespannter die Interessen und je anspruchsvoller die Berufstätigkeit, desto mehr geistige Reservekapazität wurde ausgebildet, die dann beim Nachlassen der Leistungsfähigkeit Gedächtnislücken kompensieren kann. Interessant ist, dass Sozialkontakte zu den größten Herausforderungen gehören. Dies liegt zum einen daran, dass soziale Situationen, wie die Unterhaltung mit einem Kollegen über ein berufliches Thema, nicht wirklich planbar sind und in kürzester Zeit zahlreiche Entscheidungs- und Gedächtnisprozesse verlangen. Die richtige Einordnung von situativem Humor, versteckten Anspielungen oder mimisch-gestischen Unterstreichungen erfordert eine feine Wahrnehmung und regt zahlreiche gedankliche Vorgänge an. Zudem sind solche Gespräche häufig eine große emotionale Herausforderung, denn man will sich nicht blamieren, man will geistreich und witzig, informiert, kenntnisreich, großzügig und weitblickend erscheinen – kurz, man will sich im besten Licht zeigen.
Eine neue Übersichtsarbeit wurde 2022 von japanischen Kollegen veröffentlicht[3]. Sie fassten drei größere Populationsstudien zusammen und kommen zu dem Schluss, dass das Spielen eines Musikinstruments eindeutig das Risiko einer Demenz verringert.
Fazit ist: Musikalische Aktivitäten sind mehr als nur Unterhaltung – sie können eine wirksame Strategie zur Prävention von Demenz sein. Durch ihre Fähigkeit, das Gehirn ganzheitlich zu aktivieren, soziale Kontakte zu fördern und das emotionale Wohlbefinden zu steigern, trägt Musik entscheidend dazu bei, das Risiko altersbedingter kognitiver Einschränkungen zu reduzieren. Regelmäßige Beschäftigung mit Musik – sei es durch Singen, Tanzen oder Instrumente – sollte daher ein fester Bestandteil eines aktiven und gesunden Lebensstils sein.
- Eckart Altenmüller, Prof. Emeritus, Dr. med. Dipl. Mus., Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
Anmerkungen
[1] Baird, A. & Samson, S. (2015). Music and dementia. Prog Brain Res. doi: 10.1016/bs.pbr.2014.11.028.
[2] Van der Steen, J.T. et. al. (2018). Music-based therapeutic interventions for people with dementia. The Cochrane database of systematic reviews. doi: 10.1002/14651858.CD003477.pub4, Dieser Artikel ist im Internet frei zugänglich.
[3] Arafa, A. et. al (2022). Playing a musical instrument and the risk of dementia among older adults: a systematic review and meta-analysis of prospective cohort studies. BMC Neurol. doi: 10.1186/s12883-022-02902-z.
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