Mit der Gleichberechtigung ist das so eine Sache – die UN-Kinderrechtskonvention stellt fest, dass Mädchen und Jungen die gleichen Rechte haben. Die tägliche Erfahrung aber bestätigt diese Forderung nicht immer. Dabei sind die regionalen Unterschiede der Anerkennung und Umsetzung gleicher weltweit sehr unterschiedlich: manches funktioniert, manches noch nicht, manches gar nicht. In Regensburg haben sich Mädchen neulich – nach immerhin gut 1000 Jahren – einen Platz in der Musikgeschichte erobern können. Ihre ersten Schritte sind vielversprechend!
Musikalische Jahrestage (13) – 11. Oktober – Internationaler Mädchentag
„Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind?“, fragt ein Lied aus dem Jahr 1971. Die Antwort kommt prompt: „Der spinnt!“ – Der Liedtexter Volker Ludwig dichtet Mädchen dann noch an, sie seien albern, schüchtern, trauen sich nicht, seien weinerlich, meckerig und zappelig. Das volle Programm an Vorurteilen und Rollenbildern wird hier ausgerollt. Dann aber: „Der spinnt!“ und „Der hat’n Stich“, der so etwas behauptet. Und am Ende: „Mädchen sind genauso schlau wie Jungen, Mädchen sind genauso frech und schnell, Mädchen haben soviel Mut wie Jungen, Mädchen haben auch ein dickes Fell.“
Den Internationalen Mädchentag, den UNO International Day of the Girl Child, haben wir „natürlich“ wieder auf unserer Paten-Plattform „Kuriose Feiertage“ gefunden. Das Wörterbuch beschreibt das Wort „kurios“ als „auf unverständliche, fast spaßig anmutende Weise sonderbar, merkwürdig“. Keine dieser Zuweisungen passt wirklich zum Internationalen Mädchentag – dazu ist sein Hintergrund viel zu ernst. Merkwürdig ist es allenfalls, dass es eines solchen Feiertages zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch bedarf. Vielleicht ist es eines nicht allzu fernen Tages ein Jahrestag, der einfach abgeschafft werden kann, weil die Gleichheit der Geschlechter und ihrer Rechte Realität geworden sind.
Wie so oft helfen uns bei der Annäherung an diesen Tag die anderen auf „Kuriose Feiertage“ dargebotenen Tage wenig: der bundesweite Tag des Schauspiels in Deutschland, der Welt-Ei-Tag, der Meine-Party-Tag in US-Amerika oder der Tag der Würstchen-Pizza ebenda. Tatsächlich hat es auch mit dem Datum des Internationalen Mädchentages (er wird seit 2011 jährlich am 11. Oktober begangen) keine besondere Bewandtnis – es wurde quasi zufällig von der UNO-Generalversammlung festgesetzt.
Kinderrechte
Worum geht es eigentlich genau? Laut der UN-Kinderrechtskonvention haben Mädchen und Jungen die selben Rechte. Trotzdem erleben Mädchen häufiger Diskriminierung. Der Internationale Mädchentag soll darauf aufmerksam machen, dass Mädchen stark sind und viel erreichen können, aber oft daran gehindert werden. Jedes Jahr mahnt er an, die Situation von Mädchen weltweit in den Blick zu nehmen und die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, zu bekämpfen.
Auf der Homepage der Organisation „Plan International“, auf deren Initiative hin die Vereinten Nationen diesen Bedenktag ausgerufen haben, wird die Situation von Mädchen so beschrieben: „Dennoch werden viele von ihnen [Anm: den Mädchen] aufgrund von Ungleichheiten daran gehindert, ihre Rechte wahrzunehmen. Weltweit rund 140 Millionen Mädchen können nicht zur Schule gehen. Gründe dafür sind unter anderem Kinderehen, frühe Schwangerschaft und sexuelle Gewalt. Diese Barrieren erschweren den Zugang zu Bildung und verhindern ein selbst bestimmtes Leben. Krisen und Katastrophen verstärken geschlechtsspezifische Diskriminierungen, denen Mädchen und junge Frauen ausgesetzt sind.“
Von Anfang an standen die Internationalen Mädchentage unter jährlich unter einem anderen Motto, zum Beispiel „Kinderheirat beenden“, „Neuerungen für die Ausbildung von Mädchen“ oder „Den Kreis der Gewalt beenden“. Im Jahr 2022, das uns gleich zum musikalischen Inhalt dieses Tages führen soll, war das Motto „Our time is now – our rights, our future“.
Tatsächlich war bei den Regensburger Domspatzen das Thema „Mädchen“ schon einige Jahre vorher durchaus ernsthaft im Gespräch, aber hatte sich aus verschiedenen Gründen noch nicht durchsetzen können. Zwischenzeitlich hatten sich einige Rahmenbedingungen geändert, unter anderem waren die Gebäude neu renoviert worden und boten neue Möglichkeiten. So konnten im Jahr 2022 – „Our time is now!“ – erstmals nach über 1000-jähriger Geschichte Mädchen in das bis dahin von Jungen und jungen Männern geprägte Gymnasium und das Internat der Regensburger Domspatzen einziehen.
Das Thema war durchaus auch bei den anderen namhaften Knabenchören, den Thomanern in Leipzig, den Kruzianern in Dresden und dem Windsbacher Knabenchor schon aufgetaucht. Eine Mutter hatte sogar versucht auf dem Rechtsweg ihre Tochter in einen Chor einzuklagen.
Mädchenchor
Bisher werde unter den ursprünglichen Knabenchor-Institutionen allerdings nur bei den Regensburger Domspatzen auch Mädchen aufgenommen. Domkapellmeister Christian Heiß betont dabei: „Wir haben nicht mit der Tradition gebrochen, sondern wir haben sie nur fortgeführt – im Sinne einer Fortentwicklung.“ Der Mädchenchor bildet eine vollständig eigene Schiene. Zwar besuchen Jungs wie Mädchen natürlich gemeinsam den Unterricht – und auch diese Koedukation ist neu für das Gymnasium. – Allerdings wird an ein gemeinsames Singen der Jungen mit den Mädchen derzeit überhaupt nicht gedacht. Anfragen, diese neue Schiene zu beschreiten sind nicht zuletzt auch aus den Reihen der in Regensburg ansässigen Eltern und Familien gekommen. Die Eltern wollten auch ihren Töchtern die gleiche musikalische Ausbildung zukommen lassen, wie den Söhnen. Ein Instrument hatten die allermeisten von ihnen ohnehin schon zuhause gelernt.
Nach internen Vorbereitungen teilte man zunächst einmal den Knaben – sie sollten es nicht allzu unpersönlich aus der Presse erfahren – mit, dass man beabsichtige, ab dem nächsten Schuljahr auch Mädchen aufzunehmen. Immerhin bildeten die Knaben seit 1000 Jahren eine sehr einheitliche homogene Gruppe. Bei der Verkündung der neuen Pläne herrschte zunächst „völliges Erstaunen“, so Heiß. In den darauf folgenden Tagen wurden die Reaktionen je nach Altersgruppen differenzierter – die einen fanden Mädchen „blöd“, die etwas älteren freuten sich auf die jungen Damen. – Als man sich dann mit dem Plan an die Öffentlichkeit wagte, war man sehr gespannt, was passieren würde, ob und wieviele Anmeldungen es überhaupt geben würde. Bereits am ersten Tag kamen einige Bewerbungen, die allererste aus Stuttgart.
Man hatte Szuczies die Freiheit und auch Zeit gelassen, zu entscheiden, wann sie zum ersten Mal mit dem Chor auftreten würde. Die erste Chorprobe war Mitte September 2022, im Dezember bereits hatte der Mädchenchor sein Debüt im Domamt. Die Anforderungen an einen Chor, der das Hochamt im Dom mitgestaltet sind für jeden Chor gleich: eine Messe und zwei Motetten, das ganze wahlweise mit oder ohne Orgel. Die Reaktionen der Gemeinde auf diesen Auftritt waren durchweg positiv. Der zweite Auftritt fand am gleichen Sonntag mit gleichem Programm in der Frauenkirche in Nürnberg statt. Das Repertoire des Chores besteht zu großen Teilen aus Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Vorher gab es – abgesehen von der Romantik – wenig Originalkompositionen für mehrstimmigen Mädchenchor – und die Domspatzen singen mittlerweile bis zu achtstimmigen Werken.
Für Heiß und Szuczies macht die in Regensburg nun gepflegte Trennung von Knaben- und Mädchenchor Sinn – Szuczies sagt, dass man den Unterschied zwischen diesen beiden Klangkörpern deutlich hören kann; Heiß beschreibt den Klang der Knaben als weiter, breiter und obertonreicher, der Klang des Mädchenchores sei seiner Ansicht nach „klarer“. Sicher könne man – das wissen beide – die Mädchen und die Knabenstimmen miteinander mischen. Dadurch entstehe ein anderer Klang, der aber bei den Domspatzen weder gewollt noch angestrebt werde. Da sich die weibliche und die männliche Stimme biologisch unterschiedlich entwickeln, ist das durchaus auch ein sinnvolles Unterfangen. Beispielsweise hat ein Knabenchor nach dem Stimmbruch älterer Sänger den Vorteil, auch die tiefen Stimmen abdecken zu können. Allerdings fallen die Knaben während ihres Stimmbruchs für einige Zeit im Chorgesang aus. Hier sind die Mädchen im Vorteil: sie können durchgängig weitersingen, da ihre Entwicklung langsamer und organischer abläuft.
Gleiche Bedingungen für alle
Unabhängig davon sind die Bedingungen für die Mädchen und Knaben bei den Regensburger Domspatzen absolut gleich: Um aufgenommen zu werden, müssen alle eine einfache musikalische Aufnahmeprüfung bestehen und die Gymnasial-Eignung vorweisen können. Wer aufgenommen wird, Knaben wie Mädchen, bekommt die absolut gleiche Ausbildung, mit Unterricht, (Einzel-)Stimmbildung und Chorproben. Das ist für einen Mädchenchor auf diesem Niveau, betont Szuczies, in Deutschland einmalig!
Betrachtet man nun die Mottos des Internationalen Mädchentages der vergangenen drei Jahre – also der Zeit, in der der Mädchenchor in Regensburg sich etabliert hat –, kann man zumindest entfernt in dieser Entwicklung diese drei Mottos wiederfinden: 2022 „Our time is now“, 2023 „Invest in Girls‘ Rights“ und 2024 „Girls‘ visions for the future“. So sind die Mädchen bei den Domspatzen Vorreiter für viele Möglichkeiten, die sich bei Mädchenchören noch entwickeln können. Gleiche Rechte bei einem gesunden Nebeneinander und gegenseitiger Wertschätzung – denn: natürlich gehen die Knaben freiwillig und neugierig zu den Konzerten der Mädchen und schätzen sie sehr! Das ist auf sehr natürlichem und direktem Weg das, was der Internationale Mädchentag erreichen will: zur Arbeit für die Rechte der Mädchen inspirieren und ihnen Mut machen, selbst die Initiative zu ergreifen, für die eigenen Rechte einzustehen und diese Rechte zu stärken.
Weitere Informationen:
- Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind – https://www.youtube.com/watch?v=wo9sct-u6Rw
- Erster Auftritt des Mädchenchores der Regensburger Domspatzen – https://www.youtube.com/watch?v=EI0LkMhmkbw
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