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„Orfeo“ als Auftakt der Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper Berlin.Foto: drama-berlin.de
„Orfeo“ als Auftakt der Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper Berlin.Foto: drama-berlin.de
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Musiktheater-Rekorde: Monteverdis Opern-Trilogie in einer Neufassung von Elena Kats-Chernin an der Komischen Oper Berlin

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Da Claudio Monteverdis Opern nicht als originale Partituren überliefert sind, gab es von jeher viel Interpretationsspielraum hinsichtlich Orchestrierung, Tempo, Dynamik und Artikulierung. Die neuen drei Partituren von Elena Kats-Chernin entstanden parallel zu den 21-wöchigen Regieproben der Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper Berlin. Und dem klanglichen Raumempfinden der Kats-Chernin ist die Lachenmann-Schülerin im besten Sinne anzumerken. Ihre Bearbeitungen Monteverdis sind zumeist horizontal, aber auch vertikal gelungen; die fragmentarisch überlieferten kompositorischen Strukturen unterlegt sie stellenweise mit Jazz, Klezmer und Tango.

Mit der Abfolge der drei komplett erhaltenen Monteverdi-Opern als Trilogie an nur einem Tag, zur Spielzeiteröffnung seiner neuen Intendanz, wird Barrie Kosky wohl ins Guinessbuch der Rekorde eingehen. Aber auch jenseits des Marathons ist ihm mit dieser Monteverdi-Trilogie ein Wurf gelungen. 

Der Dreisprung dieser Opernpremieren innerhalb von 12 Stunden ließ sich nur durch unterschiedliche Orchesterbesetzungen erreichen, und so wurde aus der Not eine Tugend gemacht. In der ersten Oper bilden die Violinen, in der zweiten acht Celli, in der dritten nur Bratschen die Streicherformation.


„Orpheus“
Die neue, eigenwillige Fassung des madrigalen Hymnus beginnt im völligen Dunkel mit tiefstem Grundton und schlägt so den Bogen zu Wagners „Ring“-Zyklus. Später gemahnen Kats-Chernins „Orfeo“-Klänge häufig an Tanzmusik und Folklore, als eine gekonnte Mischung aus ungarischer und nahöstlicher Popularmusik.  Ein breiter, ausgiebig bespielter Steg um den Orchestergraben, lässt zwei Trommler nur noch daneben, im Auditorium, Platz finden, und Holz- und Blechbläser spielen im ersten Rang des Theaters.

Auch optisch verblüfft der Bühnenraum von Katrin Lea Tag: Thrakien ist eine üppig blühende, arkadische Landschaft, mit plastischen Blumen, Sträuchern, Hecken und Bäumen, die das Herz jedes konventionellen Opernbesuchers höher schlagen lassen, nach dem Motto, „Es geht also doch!“. Dazu Vögel, die von halbnackten Najaden, an Stangen aus den Rängen über das Parkett gehalten, über die Köpfe des Publikums flattern. Orpheus badet ausgiebig in einem tiefen Teich, der im dritten Akt auch als Zugang zum Unterweltsfluss Styx dient. Und am Ende des fünften Aktes versinkt Orpheus in diesen Fluten.

Eine lebensgroße Puppe, mal Skelett, mal Komplettfigur, wird als die Imagination des Orpheus geführt von einem  Puppenspieler (Frank Soehnle) oder schwebt an 8 Strippen als Übermarionette à la Edward Gordon Craig im Schnürboden. Später lässt der Puppenspieler auch eine Eurydike in Miniatur als Geist über dem Wasser schweben. Grenzenlos gelingt in Arkadien die Mischung des überaus spielfreudigen Chores der Komischen Oper Berlin (einstudiert von André Kellinghaus) mit zehn Tänzern und mit einer Gruppe Bewegungskomparsen, die in den Tutti sogar mitsingen. Neben Faunen mischen sich bei Orpheus’ Hochzeit mit Eurydike auch menschengroße Hasen und Vogelwesen in die arkadische Gesellschaft.

Vielschichtig gestaltet Dominik Köninger die Titelrolle im ersten Künstlerdrama der Musiktheatergeschichte. Orpheus, im schwarzen Anzug, ist auch unser Zeitgenosse, der sich seine Lyra pantomimisch aus der geistigen Welt angelt und Eurydike (Julia Novikova) auf seinen Schultern trägt. Auch wenn der mythische Sänger es nicht schafft, Eurydike aus dem Reich des Hades zurückzuholen, siegt Dominik Köninger als Neuzugang an der Komischen Oper gesanglich und darstellerisch auf der ganzen Linie. Pluto (Alexy Antonow) und Proserpina (Theresa Kronthaler, die zuvor auch die Überbringerin der Todesbotschaft Eurydikes, die Sylvia, gespielt hatte), sind ebenso Heutige, wie auch Charon (Stefan Sevenich), ein müder Fischer ohne Angelrute.

Violinen in Arkadien, Blechbläser in der Unterwelt der „Orpheus“-Handlung, ergänzt durch Akkordeon, Bandoneon, Cimbalom, Djoze und Kontrabass, machen aus der in den vergangenen Jahrhunderten von diversen Komponisten spielbar gemachten und bearbeiteten Favola in musica Monteverdis aus dem Jahre 1607 ein ungewohntes, sängerisch hochwertiges Hörerlebnis.

Den rote Faden zu den nachfolgenden beiden Opern bildet Amor, den der Tenor Peter Renz als kurz geschürzten Knaben mit Blumenkranz sympathisch verkörpert.

„Odysseuss“
Mit diesem Amor beginnt auch die Handlung der zweiten Oper, deren Titel „Die Heimkehr des Odysseus in seine Heimat“ in Berlin auf den Namen des Haupthandlungsträgers verkürzt ist. Doch nach dem Prolog mutiert die Person des Liebesknaben in die Figur des Vielfraßes Iros. Optisch ist die Handlung platziert auf einem grünen Spielfeld über dem abgedeckten Orchestergraben. Im Anschluss an das üppige Arkadien wirkt die Reduzierung auf eine nachwinterliche Schräge mit sparsamem, erstem Grün in kahlen Bäumen ernüchternd und trostlos.

Auch die Aktionen im Dramma per musica aus dem Jahre 1640 sind zu einer kargen Versuchsanordnung geronnen. Einzig das überbordende, ausgelebte Sex-Begehren des jungen Paares Melanto (Mirka Wagner) und Eurymachos (Adrian Strooper) verweist bereits auf nachfolgende, wieder üppigere Zeiten. In der trojanischen Nachkriegszeit machen Schicksal, Amor und Tempus dem Menschen das Leben zur Qual. Amors Pfeile bilden aber auch den Bogen zu jenem des Odysseus und zum vergeblichen Versuch der Freier seiner verlassenen Frau Penelope, den Bogen des verschollenen Königs zu spannen.

Von der Göttin Minerva (Annelie Sophie Müller) hat Odysseus als Verkleidung eine Strickmütze, dazu einen Zinkeimer mit toten Raben bekommen und spielt seine Rolle als gebrechlicher Bettler Namenlos überzeugend. Dem Fettwanst-Schmarotzer Iros stülpt er den Eimer über den Kopf, und die Freier erledigt er nicht mit Pfeilen, sondern streckt sie mit seiner aus Troja mitgebrachten Pistole nieder.

In dieser Oper umrahmen die Instrumentalisten die Spielebene. Sechs Celli, zwei Kontrabässe, 2 Harfen, 2 Flügel und Schlagwerk im Hintergrund, links eine sechsköpfige Bläserformation und rechts der Dirigent, mit Kora, Ud, Theorbe, Violincello und Harmonium als Continuo, sorgen für einen ungewöhnlich transparenten Klang. Die enormen Differenzierungen des Dirigenten André de Ridder, zugunsten des Gesanges, werden so besonders deutlich.

Jens Larsen verkörpert nicht nur die Zeit, sondern auch den Freier Antinoos, im Dreigespann der Freier ihm zur Seite Christop Späth als Pisandro und Tom Erik Lie als Amphinomos.  Gesanglich sehr schön und konkret, aber mit wenig Rollenprofil die Erykleia von Christine Oertel.  Individuell in Spots beleuchtet ist das Ehepaar, das nach so langen Jahren schwer wieder zusammen findet: großartig der samtig dramatische Mezzo von Ezgi Kutlu als Pelelope und überragend der gleichermaßen schmelz- und kraftvolle Bariton von Günter Papendell als Odysseus.

Die neue Orchestrierung setzt col legno der Kontrabassisten als Rhythmuselement ein, und die Freier-Szene gipfelt, durch addierten Rhythmus, in einer Tangonummer. Besonders originelle Wirkung erzeugt Elena Kats-Chernins Mischklang von konzertierenden Flügeln, Harfen und Glockenspiel. Ganz ohne Harmonie und Basselement, quasi frei entwickelt, sprudelt das Rezitativ der Minerva. Und der letzte Ton dieser Partitur wird durch den endlich vollzogenen Kuss des Ehepaars ersetzt.

Eine direkte, plastisch unverschnörkelte und sexuell unverblümte Sprache in guter Sanglichkeit, witzig und treffend, sprechen die neuen deutschen Texte der Monteverdi-Trilogie von Susanne Felicitas Wolf (beim „Odysseus“ gemeinsam mit Ulrich Lenz). So manche Textzeile, etwa „Vergesst Etikette beim Duette im Bette“, vermag beim Publikum Lacher auszulösen.


„Poppea“
Erneute Steigerung und Höhepunkt an eigenwilliger Orchestrierung einerseits und aggressiver Regie andererseits, bietet Monteverdis „Krönung der Poppea“, hier verkürzt auf den Namen der Kurtisane und Thonanwärterin an der Seite Kaiser Neros.  Die dritte Opernhandlung, mit ihrer für einen Priester als Komponisten geradezu unfassbaren Verherrlichung der Unmoral, spielt erneut im Grundraum von Arkadien, nun aber aller Pflanzen bar und mit Felsfindlingen bestückt. Amor ist allgegenwärtig bei den Aktionen der dreiaktigen Opera musicale, nun transvestiert zu einer Drag Queen.

Nero und Poppea wickeln sich aus einem Seidenlaken im Grauton von Poppeas Kleid. Eine Augenmaske Poppeas schiebt Nero der Geliebten als Transe in den Mund. Später zertrümmert er eine Melone, mit der Poppea aufreizend gespielt hatte und lutscht dann die halbe Frucht zwischen ihren gespreizten Schenkeln aus. Der Philosoph Seneca naht mit einem Bücherkarren. Ihm, seinem Gegenspieler, rammt Nero einen von Amor bereit gehaltenen Pfeil in den Anus. Doch Seneca (sehr souverän. Jens Larsen) tauscht seine blutüberströmte Hose bald gegen völlige Nacktheit: nun ist er Privatmann und kreatürlich. Seine berockten Anhänger, die ihn zum Weiterleben überreden wollen, hat Monteverdi mit polyphonem Chorsatz als Reaktionäre gestempelt. Dem im Wasser Verblutenden werden zusätzlich Eimer mit Blut übergegossen, und Amor genießt dieses Gemisch in einem Sektkelch. Nero quält Drusilla (Julia Giebel) beim Verhör, und er geilt sich dabei bis zur Ejakulation auf. Octavia legt bei ihrer Abschiedsarie Schmuck, Kleid und Perücke ab, aber die Verbannten kommen nicht weit, sie werden von Nero persönlich erschossen.

Die Neufassung der Opera musicale aus den Jahren 1642/43 erlaubt sich auch dramaturgisch größere Freiheiten als bei den beiden vorangegangenen Stücken. Das Duett der Wache haltenden Soldaten ist eliminiert, dafür gibt es häufiger Krakeelen der hier als Prostituierte wiederkehrenden, einstigen Nymphen, sowie männlicher, bisweilen völlig nackter Lustknaben. Seneca liest eine gereimte Botschaft, die ihn zum Sterben auffordert, noch bevor Liberto (Adrian Stooper) ihm den Auftrag Neros, sich umgehend zu töten, überbringt.

Aus dem nun wieder abgefahrenen Orchestergraben erklingt das vom Dirigenten selbst arrangierte Continuo, welches nun neben einer Bass Viola da Gamba,  Banjos, Gitarren und Bariton-E-Gitarre umfasst, leider deutlich weniger transparent. In der „Poppea“ arbeitet Elena Kats-Chernins mit jazzigen Arrangements. Die Barartig dekadente Atmosphäre unterstreicht der dominante Einsatz des Vibraphons. Nahe liegt für die bearbeitende Komponistin der Bezug zu Beat und Pop: auch in Monteverdis Stil basiert das Continuo auf jeweils einem geschlagenen Saiteninstrument, einem Tasteninstrument und einem Bass. Das berühmte Schlussduett wird in dieser Fassung durch die Begleitung und das Nachspiel
der jaulenden Gitarren zu einer echten Cover-Version.

Aus einem siegesgewissen Kichern entwickelt die Kaiserin Octavia (Helene Schneiderman) ihre nachfolgende Gesangsphrase. In barocker Tradition sind die alten Frauen, Poppeas Dienerin Arnalta (großartig: Thomas Michael Allen) und die Amme Octavias (Tom Erik Lee) männlich besetzt. Wenn letztere der Kaiserin einen Drink mixt, dann klappert synchron dazu eine Rumbakugel. Nur bei der vom Regisseur hinzu erfundenen Vergewaltigung der Amme schweigt die Musik. Spannend gestaltet Theresa Kronthaler die Hosenrolle von Poppeas abgelegtem Liebhaber Otho; wenn der in Drusillas Frauenkleider schlüpft, um Poppea im Auftrag der Kaiserin zu ermorden, entwickelt die Sängerin ein gleichermaßen stimmlich und darstellerisch fesselndes Mörder-Psychogramm.

Eindrucksstark ist das ungleiche Liebespaar: Roger Smeets als Nero facettenreich im Gesang und psychotisch glaubhaft im Ausdruck, Brigitte Geller gekonnt lasziv und scharf, Letzteres aber mitunter auch stimmlich. Der Gesang der Konsuln und Tribunen vor dem Schlussduett entfällt ganz. Statt dessen kehrt die arkadische Gesellschaft, mitsamt Hasen- und Vogelköpfen, als Hochzeitschor wieder, dem sich „Amor!“-Rufe anschließen. Amor, nunmehr wieder im arkadischen Grundgewand, wird auf Händen hinweg getragen – und er bildet dann auch den Schlusspunkt der Applausordnung.

Am Ende der Pop-Version des wohl schönsten Liebesduetts der Operngeschichte, bei welchem sich die Partner körperlich hier nicht mehr viel zu sagen haben, versinken beide im Wasser jenes Teichs, dessen Untiefen zuvor schon Orpheus und dann Seneca verschlungen hatten.

Der Jubel für die knapp 200 Beteiligten, inklusive der Komponistin, erweiterte sich beim Auftritt des Regisseurs und neuen Hausherrn um schrille, wohl positiv gemeinte Pfiffe. Barrie Kosky hielt seine Dankesansprache nicht erst auf der Premierenfeier, sondern ergriff nach fast 12 Stunden Opernmarathon gleich auf der Bühne ein Mikrofon, um allen Beteiligten, in erster Linie aber dem Dirigenten André de Ridder zu danken, der einen Umfang an Proben geleistet habe, wie niemals ein Dirigent zuvor, mit zwölf Bühnenorchesterproben in einer Woche.

Der Spielzeiteröffnungs-Hattrick der Komischen Oper Berlin wurde live in 3sat übertragen; auch dies, vom Umfang her, durchaus ein neuer Musiktheater-Rekord.

Weitere Aufführungen:
Orpheus: 22. September, 3., 19. Oktober, 4. November, 5. Juli 2013.
Odysseus: 23. September, 3., 20. Oktober, 4. November, 6. Juli 2013.
Poppea: 3., 21. Oktober, 1. 4. November 2012, 7. Juli 2013.

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