Bei vielen Festivals Neuer Musik konstatiert man eine wachsende Neigung vor allem jüngerer Komponisten zur Visualisierung ihrer Musik. Videobilder korrespondieren mit Klängen, szenische Aktionen kontrapunktieren komponierte Gesten. Oft entsteht aus solchen Interaktionen so etwas wie ein neues Musik-Theater, absichtlich mit Koppelung geschrieben, weil Musik und Theater gleichwertig miteinander kommunizieren. Auch beim Stuttgarter ISCM-Festival standen einige musiktheatralische Produktionen im Mittelpunkt des Interesses. Über die Werke von Fausto Romitelli und Julio Estrada wird im folgenden berichtet. Über Younghi Pagh-Paans Adaption von Sophokles’ „Ödipus in Kolonnos“ in ihrem ersten Bühnenwerk „Mondschatten“, über Dror Feilers und Hamed Taheris „Avenir! Avenir!“ sowie über die Aufführungen der NewMediaPocketOpera, des Centre for Research in Opera and Music Theatre Sussex, des Steim Amsterdam und von Tempo Reale Florenz soll in der nächsten nmz-Ausgabe in anderem Zusammenhang berichtet werden.
Man könnte Schiller zitieren: „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ In jedem Jahr veranstaltet die Internationale Gesellschaft für Neue Musik in einem jeweils anderen Mitgliedsland ihr Weltmusikfestival. Fast 50 Nationen gehören der ISCM (International Society for Contemporary Music) inzwischen an, von Argentinien bis Venezuela, von Australien bis zu den Vereinigten Staaten. Das erste ISCM-Festival fand übrigens 1923 in Salzburg statt. Bis auf die Kriegsjahre gab es in der Abfolge keine Unterbrechung. In Deutschland war das Weltfestival zuletzt vor elf Jahren im Ruhrgebiet zu Gast.
Jetzt versammelten sich in Stuttgart rund 200 Komponisten aus fast 60 Ländern zum ISCM-Festival 2006, das bis zum 29. Juli ging. In 70 Veranstaltungen repräsentierten sie einen bemerkenswert großen Querschnitt durch das, was heute in der globalisierten Welt an Musik oder mit Musik verbundenen anderen Künsten und Medien komponiert, oft auch nur hergestellt oder montiert wird.
Die Stuttgarter Gastgeber und das engagierte „Musik der Jahrhunderte“-Team mit Christine Fischer an der Spitze fanden bei der Themensetzung für das Festival einen höchst aktuellen, dabei auch vieldeutig belichtbaren Titel: „grenzenlos“ bezeichnet die Möglichkeiten gegenwärtiger Musik, in der ganzen Welt, nicht zuletzt wegen der technischen und medialen Entwicklungen, wahrgenommen zu werden (Krisenregionen ausgenommen).
Mussten einst deutsche oder niederländische Komponisten zum Studieren nach Italien reisen, um zu erfahren, was dort an Musik entstand, so kann man sich heute in den neuen Medien über alles ausreichend schnell informieren.
Diese rasche Verfügbarkeit, die Schnelligkeit, mit der man sich informieren kann, birgt für den einzelnen Künstler aber auch Gefahren. Wie bringt er sich als autonome Persönlichkeit in das System ein? Könnte er seine Individualität bei so vielen äußeren Einwirkungen bewahren, wenn er nicht seine eigene Handschrift überhaupt erst einmal ausprägen müsste? Die Fragestellungen gehen weiter. Welche Rolle spielt noch das Nationale in der Musik? Nicht im Sinne von formaler nationaler Zugehörigkeit des Komponisten, sondern im Hinblick auf die emotionale Dimension, in die ein Künstler gestellt ist. Ist Hans Werner Henze durch seinen langen Aufenthalt in Italien zum italienischen Komponisten geworden? Solche Fragen könnte man auch in die Vergangenheit zurückspielen, zum Beispiel bis zu Händel: englisch, deutsch, italienisch? Das „alte Europa“ war in der Kunst oft viel „grenzenloser“ als das heutige.
In Stuttgart wird über diese Themen intensiv gesprochen, und wie notwendig das ist, erfährt man dann in den Konzerten, in denen manche der gespielten Werke doch sehr etüdenhaft anmuten. Die Schwierigkeiten eines abendlandfernen Komponisten, sich mit einem „westlichen“ Instrumentarium individuell und auch noch original auszudrücken, sind wohl oft größer als man denkt. Komponisten wie Isang Yun oder Toshio Hosokawa gibt es nicht in jedem Jahrgang.
Manche Missverständnisse erwachsen auch aus Unduldsamkeit. Der mexikanische Komponist Julio Estrada, Sohn spanischer Einwanderer, 1943 geboren, brachte als deutsche Erstaufführung sein Musiktheaterstück „Murmullos del páramo“ nach Stuttgart. Es entstand nach dem Roman „Pedro Páramo“ des Mexikaners Juan Rulfo (1918 bis 1986). Das auch in deutscher Übersetzung erschienene Werk reflektiert in der tradierten Form eines Totentanzes den gesellschaftlichen Niedergang Mexikos. Die handelnden Personen in dem kleinen verödeten Dorf sind allesamt schon tot, auch der Erzähler, der Sohn des einstigen indianischen Ortsvorstehers, des Kaziken Pedro Páramo, ist schon gestorben. Mit List und Gewalt hatte es Pedro zum reichen und mächtigen Mann gebracht.
Juan Rulfos Roman zeichnet eine weite epische Gestik, eine lakonische Knappheit des Erzählstils aus, auch eine Härte und Schärfe des Blicks für sein Land. Mit der so genannten Blut-und-Boden-Thematik hat das nichts zu tun, was in Stuttgart manche Besucher missverstanden haben. Julio Estrada wiederum erkannte, dass ein Musiktheater auf den Roman nicht zu einer der üblichen Literaturveroperungen führen durfte. Für ihn galt es, die Inhalte des Buches, das Atmosphärische, das Absterbende, die Verzweiflung der Figuren, in Musik, in Klänge, Geräusche, Stimmlaute zu fassen. Ein magischer Klangraum mit 16 Lautsprechern nimmt die Figuren auf: Kontrabass (Stefano Scodanibbio), Posaune (Mike Svoboda), Gitarre (Magnus Andersson) und ein Sho-Spieler (Ko Ishikawa) sowie ein „Geräuschemacher“ (Llorenc Barber) vereinigen sich mit den flüsternden, wortlosen Gesprächen der Dorfbewohner (Neue Vokalsolisten Stuttgart) und der „Stimme“ einer einzelnen Frau (Fátima Miranda), die zu Beginn den Sohn des Kaziken ins Dorf zurücklockt. Estrada, der unter anderen bei Messiaen, Stockhausen, Ligeti und Xenakis studierte (auch Akustiktheorie und Musique concrète) und bei einem Aufenthalt bei den Hopi-Indianern in Arizona die Tänze und die Musik der Ureinwohner kennen lernte, hat fast 15 Jahre an seinem Musiktheater gearbeitet.
In der Inszenierung Sergio Velas bewegen sich die Figuren in einem oft diffus ausgeleuchteten, fast kahlen Raum, wie in einem magischen Ritual, das durch einen silberfarben bemalten Butôh-Tänzer (Ko Murobushi) zusätzlich eine bizarre Note erhält: Der Tänzer stellt den toten Pedro Páramo dar. Estradas „Gemurmel“ („Murmullos“) fasziniert durch die kompositorische Dichte, die Plastizität der Klänge und Geräusche. Aber die Klänge besitzen auch etwas Bildhaftes, drängen förmlich zur szenischen Visualisierung. Das war in Stuttgart sehr gut herausgearbeitet.
Da die Neue Musik seit geraumer Zeit immer stärker zur szenisch-optischen Erweiterung drängt (kaum ein Neue-Musik-Festival kommt mehr ohne wie auch immer gestaltetem Musiktheater aus), mochte man auch beim ISCM-Festival nicht darauf verzichten. Im Forum Neues Musiktheater der Stuttgarter Staatsoper erlebte man als deutsche Erstaufführung Fausto Romitellis Video-Oper „An Index of Metals“. Romitelli, der vor zwei Jahren mit vierzig Jahren starb, versuchte in seiner „Oper“, Klang und Bild ins jeweils andere Ausdrucksmedium zu überführen, um dann aus bildlichem Klang und klingendem Bild über Computertransformationen eine Einheit zu gewinnen. Ob der Zuschauer/Hörer dabei, wie erhofft, in eine „neue Wahrnehmungswelt“ gleichsam wie in Trance eintritt, muss jeder für sich beurteilen. An plakativer Wucht fehlt es dem Stück nicht. Außerdem stellt man mit Befriedigung fest, dass der Live-Beitrag des Ensembles musikFabrik sich letztendlich zwingender als die anderen medialen Ausdrucksträger durchsetzt: Die vorwiegend abstrakten Video-Imaginationen von Paolo Pachini und Leonardo Romoli laufen wie eine Begleitbebilderung neben den Klängen her, die Korrespondenzen bleiben oberflächlich. Musik und Video: ein weiterhin ungelöstes Problem.