Der einhelligen Resonanz nach zu schließen, hat es Bernard Foccroulle, der Direktor des Festivals d’Aix-en-Provence, den geladenen und auch den zahlenden Sommergästen auch in diesem Sommer recht gemacht. Dabei kann der Intendant von Glück sagen, dass die von Jean-François Savadier ohne opulente Kulisse, personenbezogen exakt und ganz im Hinblick auf den Vater-Sohn-Konflikt hin inszenierte „Traviata“ zu Beginn ebenso goutiert wurde wie die Uraufführung von Oscar Bianchis „Thanks to my Eyes“ als ‚Amuse gueule‘.
Louis Langrée bescherten dem Verdi-Abend hohes Niveau mit der nötigen Kühle und Zügigkeit. Ludovic Tézier, Charles Castronovo und Natalie Dessay machten die eigentümliche „Dreiecksgeschichte“ zum Ereignis. Ob die in Koproduktion mit der Wiener Staatsoper entwickelte karge Inszenierung in der österreichischen Hauptstadt auf ebenso ungeteilten Zuspruch stößt, bleibt abzuwarten.
Hors d’œuvre
Foccroulle, der nach 15 Jahren als Opern-Intendant in Brüssel das Opernprogramm in der Provence moderiert, schafft auch dem Neuen einen gewissen Raum – aber allemal einen sehr schmalen und kammermusikalisch reduzierten. Und mit einem gewissen Hang zum Esoterischen – siehe 2004 Hosokawas „Hanjo“, 2005 „Julie“ von Philippe Boesmans oder 2008 „Passion“ von Pascal Dusapin. Heuer war ein in Oberitalien geborener Schweizer Komponist beim Probekochen an der Reihe, dessen Vita vor allem aus der Liste der empfangenen Fördermaßnahmen besteht. Er durfte nochmals einen Vater-Sohn-Konflikt betönen – ein Stück, das der 1963 geborene Autor Joël Pommerat nach einem eigenen Schauspiel mit Libretto und Inszenierung bedachte und das als „symbolistisch“ angepriesen wurde.
Die Szenenfolge handelt von Aymar, der auch in fortgeschrittenem Alter noch im ‚Hotel Mama’ betreut, vor allem aber vom Vater kujoniert wird: der Spross, mit entmännlichter Stimme von Hagen Matzeit sehr glaubhaft auf die Bühne gebracht, soll in die Fußstapfen des alten Herrn treten. Der war angeblich einer der berühmtesten Komödianten aller Zeiten, möglicherweise aber nur ein schäbiger Hochstapler – wer weiß. Auch das lässt die Kammeroper offen. Wie das, was sich bei den von Aymar empfangenen nächtlichen Besuchen einer jungen Frau an künstlerischer Seelenverwandtschaft konstituiert. Mehr will und soll da nicht sein. Kein Begehren, schon gar kein Aufbegehren.
Die Partien all dieser traurigen Kleinbürgergestalten wurden von Bianchi auf eine Weise aus- und angefertigt, die anmutet, als wolle sie beständig unter Beweis stellen, warum dieser Tonsetzer zurecht vor allem auf eine lange Liste staatlicher und steuerlich begünstigter Förderprogramme verweisen kann. Einzig die Auftritte einer weiteren jungen Frau, der „Blonden“, veranlassten das gealterte Nachwuchstalent, wenigstens einer Partie etwas charakteristisches Oszillieren und Farbe zu verleihen. Das Ensemble modern klöppelt dazu – und das war es dann schon. Selbst wenn die in „Thanks to my Eyes“ verhandelte Problematik die ihrer Urheber sein sollte, teilt sich kaum Emphase für den Sohn mit. Einzig mit der sterbenden Mutter, die irgendwie uneigentlich eine Großmutter ist, scheint die Produktion einen Hauch von Interesse zu haben. Aber das ist ein bisschen wenig, um Nachfolge des vor stark hundert Jahren grassierenden Symbolismus zu reklamieren, der sich mit anderem Zweck und Ziel an die letzten Fragen von Liebe und Tod herantastete.
Main courses
Im Hauptfeld der Festspiele fand Traditionspflege mit historischer Aufführungspraxis statt. Zuvorderst mit Wolfgang A. Mozarts „La clemenza di Tito“, bei der Sir Colin Davis den Londoner Symphonikern präsidierte und David McVicar mit einer wuchtigen Treppe an die Beschwörung von Palastintrigen durch den Habsburger Hofdichter Pietro Metastasio erinnerte. Das war gleichsam Pasta – die ‚Sättigungsbeilage’ des Menüs. Die Art und Weise, wie Musik und Szene gestaltet wurden, war vierzig oder fünfzig Jahre zurück hinter dem, was sinnvoll und möglich ist – also: so „historisch“ wie anachronistisch. Carmen Ginnastasio, Stimme der intriganten Vitellia, schlug gelegentlich so unbarmherzig zu, als wäre sie eine Wagner entlaufene Walküre und der Regisseur jagte immer wieder schwertbewehrte Wachmänner eine sperrigen Sperrholzstufen hinauf, als sollten die Ghibellinen Pisa erobern. Da schlägt dann das intendiert Erhabene ins Lächerliche um, aber niemand ist amüsiert.
Als Hauptgang das Fleischgericht: Dmitri Schostakowitschs Gogol-Adaption „Die Nase” (1930) in Zusammenwirken mit der Opéra de Lyon und deren langjährigem Dirigenten Kazushi Ono, inszeniert im Grand Théâtre de Provence vom künstlerischen Multi-Talent William Kentridge. Die Produktion war in jeder Hinsicht von Turbulenz geprägt, szenischer und musikalischer Überdruck in einer mit historischen Versatzstücken spielenden Inszenierung. Kentridge zitierte dabei die revolutionäre Photographie, Presse und Bildende Kunst der Petersburger 1920er Jahre herbei. Die möglichen Intentionen des Komponisten (nämlich: eine neue Spießerkaste im Gewand einer surrealen alten Geschichte aufs Korn zu nehmen), wurden links liegen gelassen (wiewohl auch heute das eigentlich Reizvolle). Aber ohne roten Pfeffer bleibt auch die salzarm gegarte Nase für ein Publikum in Urlaubsstimmung leichter goutierbar.
Posteri
Als Dessert im Grünen wurde Georg Friedrich Händels „Acis and Galtea“ von Leonardo García-Alarcon und Saburo Teshigawara den Schmeckleckern serviert. Die umgebaute Außenspielstätte Grand Saint-Jean gewährt jetzt Aussicht auf die nach Westen führende Allee, ein dichteres Gehölz und eine gewaltige solistische Eiche über den Sumpfwiesen. In der Abenddämmerung versank die frührokoköse Schäferidylle vom hannoveranisch-englischen Königshof wie in einem riesigen Bild von Claude Lorrain. Die unverstellte Schönheit hatte einen gewissen Preis: Ordnungskräfte mussten die Wohnwagen einer vom Präsidenten der Republik nicht geliebten Personengruppe vertreiben (aber die Festspielbesucher dürften von dieser unschönen Randerscheinung höchstens aus der örtlichen Presse erfahren haben).
Teshigawara ließ es bei etwas Gestrüpp auf der Plattform über dem kleinen Orchestergraben bewenden, in dem sich der aus lauter Liebe unaufmerksame Schäfer Acis, Nympheriche und weibliche Sumpfgöttlichkeiten verstecken können. Die vom Ausdruckstanz der 20er Jahre inspirierten Bewegungen der Arme und Hände bedeuten gewiss so etwas wie historische Aufführungspraxis. Ganz apart erschien am staubtrockenen Abend, dass der durch göttliche Gnade in einen Fluss verwandelte Acis am Ende irgendwie unbemerkt an einen Wasserhahn angeschlossen wurde und aus den Ärmeln mehrere Kannen Wasser ins Gras auf der Bühne laufen ließ.
Die Instrumente, deren Eifern Leonardo García-Alarcon anleitete, als wolle er einem „spätromantischen Werk zu expressivem Ausdruck verhelfen, erscheinen recht neu und modern hergestellt: unter Einsatz elektronischer Meßgeräte so zugesägt und gebohrt, daß ihr Ton jene feinen Schwebungen entfaltet, die die Kundschaft an ein angeblich besseres Früher denken lässt. In Hinsicht auf diesen Theatertricks war die Produktion ganz auf der Höhe der Zeit. Und natürlich bezüglich der zentralen Botschaft: „Happy, happy …“
Im Dunkel der neu aufpolierten alten Klänge und der reaktivierten Naturschönheit versankt auch das nordwestlich von Grand Saint-Jean gelegene Wäldchen, in dem Irma Reyboud aus Motte d’Aigues 1944 von der Gestapo füsiliert wurde (gleicher Jahrgang wie mein Vater); ihr widerfuhr nicht die Gnade, die Acis zuteil wurde: Kein ewiges Leben als lebendig fließendes Element, sondern vermodert unter einem verwitternden Stein. Sie wäre vielleicht die bessere Schulleiterin und pädagogisch weitsichtiger gewesen.
Theater und Leben
Wahrscheinlich ist es nur bedingt ein Vergnügen, den uneinheitlichen Erwartungen der Politiker, Sponsoren, Fördermitglieder und der Presse, den divergierenden Einreden und Pressionen nachzukommen, denen die Manager der großen europäischen Festivals ausgesetzt sind. Der belgische Barockorganist Bernard Foccroulle spielt virtuos auch auf der Tastatur der großen Beschwichtigung und registriert die Seh- und Hörerwartungen ausgewogen. Er markiert einen Gegenpol zu dem, was in Mitteleuropa für zeitgenössisch angemessenes Musiktheater gehalten wird: musikalisch verschiedenen Trends folgend, optisch ruhig und schön angelegt – und dezidiert als allemal historische oder sonstwie ferngerückte Gegenwelten zu den Niederungen des Alltags.