„Infektion!“ nennt sich ein „Festival für Neues Musiktheater“, mit dem die Berliner Staatsoper im Schillertheater ihr Spielzeitende aufpeppt. In dessen Rahmen hatte nun die nicht mehr so neue Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös Premiere. Die eigenwillige Tschechow-Version der „Drei Schwestern“ war in der Uraufführung, 1998 in Lyon, ausschließlich mit männlichen Sängerdarstellern besetzt, darunter vier Countertenören. Die deutsche Erstaufführung, elf Jahre später in Düsseldorf, verzichtete auf diese Werk-Besonderheit und besetzte die Partitur gemischt. Weitere zwölf Jahre später erklingt das Werk in Berlin ebenfalls geschlechtertypisch, aber mit einem elektroakustisch verstärkten Bassisten in der Partie der Kinderfrau Anfisa.
Der Komponist hat den dreizehn Protagonisten seiner dritten Oper eigene Instrumente eines Kammerorchesters im Orchestergraben zugeordnet, aber zusätzlich noch ein großes Symphonieorchester auf der Bühne hinzugefügt und somit die Verhältnisse von Haupt- und Bühnenorchester umgedreht.
Die Koordination zwischen dem in Berlin als Assistent Daniel Barenboims engagierten Kapellmeister Julien Salemkour im Graben und dem Münchner musikalischen Leiter der Studienrichtung Musiktheater, Joachim Tschiedel, auf dem hochgebockten Orchesterpodest der Bühne, klappt reibungslos. Im Parkett des Schillertheaters ist jedoch eine Differenzierung der beiden Klangköper nur schwer auszumachen.
Zu den wirkungsvollsten Momenten der farbigen Partitur gehören immer noch die an den Teetassen der Darsteller rhythmisch klappernden Löffel, obgleich dies kein originärer Einfall von Eötvös, sondern Bernd Alois Zimmermanns Partitur „Soldaten“ entlehnt ist, dessen „Kugelgestalt der Zeit“ der Komponist in den „Drei Schwestern“ auch dramaturgisch aufgreift. Denn die schale Handlung der in einer kleinen Garnisonsstadt lebenden drei Schwestern wird zu nächst aus der Sicht Irinas, dann aus der von Nataschas Ehemann Andrej und schließlich aus Maschas Sicht durchexerziert, und am Ende stehen die Schwestern wieder am Anfang.
Auch die Berliner Inszenierung ist nicht neu, denn es ist eine Koproduktion der Staatsoper Unter den Linden mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München, die dort im dem Vorjahr bereits zu erleben war und von wo nun die Ausstattung kommt. Eine Kuppel, die das größere Bühnenorchester überspannt, wird scheinbar von Birkenstämmen gehalten, und eine Birke vor dem Orchester ist aufgestückelt in drei Teile, auf diese Weise optisch der in Eötvös’ Partitur vielfältig angewandten (und titelgebenden) Zahl Drei gehorchend. Schaukelstuhl, luftiges Schaukelbett und eine Reihe weiterer Stühle ergänzen Carl Friedrich Oberles Ausstattung; ein Schrank ist auch Lift oder auch Tür zur Sauna, aus der die Männer nach einem Wenik-Aufguss mit den saunaspezifischen Birkenzweigen treten.
Bereits Ushio Amagatsu, der Regisseur der Uraufführung, kam vom Tanztheater. Und so auch Rosamund Gilmore, die diesen Abend mit Einfrieren und vervielfachten Bewegungsabläufen mehr choreographiert als inszeniert hat. Der Steg vor dem Orchestergraben wird mit einem Kinderwagen befahren, und abgezirkelte Stuhlgänge erfolgen in Sitzmöbeln ohne Sitzfläche. Rückwärtsgänge zwischen den drei Teilen der pausenlosen, gut anderthalbstündigen Aufführung machen sinnfällig, dass das Rad der Geschichte zurück gedreht wird, um die Handlung der drei Schwestern erneut, aber noch zweimal aus einer anderen Sichtweise zu erzählen. Auf diese Weise stellen sich beim Betrachter Déjà-vu-Momente ein.
Trotz deutscher Übertitel ist das in russischer Sprache gesungene Libretto von Peter Eötvös und Claus Henneberg inhaltlich nur schwer nachvollziehbar. (Der im Programmheft eingelegte Handlungszettel verkürzt den Werktitel zu „Tri Sesti“ [sic!].) Die jugendlichen Sängerdarsteller bieten gesanglich und darstellerisch reife Leistungen, allen voran Elvira Hasanagic als Irina, Anna Lapkovskaja als Mascha, Eun-Kyong Lim als Olga und Ines Reinhardt als Natascha, wie auch Benjamin Appl als Baron Tusenbach und Andreas Burkhart als Andreij.
Am Ende dankbarer Beifall, aber keine akklamierte „Infektion“.
Weitere Vorstellungen: 4. und 6. Juli