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Oksana Lyniv
Foto: Youth Symphony Orchestra of Ukraine
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Oksana Lyniv: „Tschaikowski ist Weltkunst und keine Propaganda“

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Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv sitzt zwischen allen Stühlen, auch wenn sie am Pult steht. Anlässlich des 31. Sächsischen Mozartfestes in Chemnitz hat Michael Ernst mit der Musikerin gesprochen und war von ihren Berichten ergriffen.

Frage: Oksana Lyniv, vor einem Jahr sollten Sie den Mozartpreis in Chemnitz erhalten, konnten ihn wegen der Pandemie aber nicht persönlich in Empfang nehmen. Jetzt haben Sie das Eröffnungskonzert dirigiert, doch die Zeiten sind nicht besser geworden. Wie geht es Ihnen damit?

Oksana Lyniv: Das ist für mich fast ein Wunder, dass ich hier bin. Diese eineinhalb Jahre Pandemie-Zeit spüren wir bis jetzt, denn sehr viele Verträge und Pläne wurden verschoben, nicht nur mein Auftritt in Chemnitz. Im Kalender ist alles durcheinander geraten und vieles soll gleichzeitig stattfinden. Aber ich fühle mich dem Sächsischen Mozartfest sehr verbunden, zumal ich auch ein Mozart-Festival in Lwiw in der Ukraine gegründet habe. Deswegen ist auch viel Wehmut dabei, jetzt hier zu dirigieren und zu wissen, dass es bei uns noch eine ganze Zeit dauern wird, bis Kulturveranstaltungen und Festivals im alten Format wieder möglich sein werden.

Als Künstlerin sind Sie weltberühmt und sollten eigentlich ohne Grenzen leben. Im Moment werden fast alle Gespräche und Interviews mit Ihnen nicht über Kunst und Musik geführt, sondern über politische Themen. Sie werden nicht als Weltbürgerin wahrgenommen, sondern stehen als Ukrainerin im Fokus. Wie geht es Ihnen in dieser Rolle?

Es ist eine sehr angespannte Zeit. Wir sind im dritten Monat des Krieges, es gibt mittlerweile sehr viele Opfer in jeder Region der Ukraine. Dazu dieser Psychoterror, es werden immer wieder Städte gebombt, wo es gar keine Front gibt. Erst vor ein paar Tagen wieder Raketen auf Lwiw, die zum Glück von unserer Luftverteidigung vernichtet werden konnten

Das einzige, was irgendwie hilft, um bei Verstand zu bleiben, ist die Arbeit. Aber da gibt es zusätzliche Spannung durch die Kultursanktionen. In der Ukraine und für alle ukrainische Künstler sind russische Repertoirewerke jetzt verboten, wir dürfen auch nicht mit russischen Künstlern zusammen eine Bühne betreten. Das gilt sogar für Künstler, die aus Russland stammen, aber schon lange nicht mehr dort leben, weil sie gegen Putin sind. Meine Konzerte wurden von ukrainischen Kollegen boykottiert und meine Verdienste durch Pressekampagnen denunziert, weil etwa Tschaikowski gespielt werden sollte. Dabei hat der vor mehr als hundert Jahren gelebt und ist der Ukraine sehr verbunden gewesen, hat in seiner Musik ukrainische Motive und Themen genutzt! Tschaikowski ist Weltkunst und keine Propaganda.

Trotzdem ist das alles momentan sehr emotional durchpolitisiert. Natürlich vertrete ich in Europa die Ukraine und spiele mit dem von mir gegründeten Ukrainischen Jugendorchester sehr viele Benefizkonzerte. In unseren Programmen erklingen die Werke von ukrainischen Komponisten, oft sogar Uraufführungen oder europäische Erstaufführungen von extra bestellten Werken. In der Ukraine wiederum versuche ich europäische Werte von Kunstfreiheit und Demokratie zu kommunizieren.

Wie ist man zum Beispiel im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit der Kunst umgegangen? Maurice Ravel hat sich 1916, als er freiwillig an der Front kämpfte, dagegen gewehrt, die gesamte deutsche und österreichische Musik, also auch Mozart und Beethoven, Wagner und Strauss zu verbieten. Er hat ganz klar gesagt, es sei egal, ob Arnold Schönberg Österreicher ist. Dadurch ist dessen Musik und ist er als Künstler doch nicht weniger wert.

Das macht mir große Sorgen. Wir müssen doch professionell bleiben! Ich denke an die ukrainischen Künstler, die in Paris oder in Zürich studieren. Natürlich müssen sie weiter Strawinsky dirigieren, es gibt keinen Dirigierwettbewerb der Welt ohne dessen Werke. Ich glaube auch nicht, dass es der ukrainischen Kultur gut tun wird, wenn unsere jungen Künstler jetzt an der eigenen Entwicklung gehindert werden. Und außerdem: das einzige Strawinsky-Museum der Welt ist in der Ukraine, in Ustyluh, sein Vater war Ukrainer. Er hat dort „Le Sacre du Printemps“ komponiert, „Petruschka“, „Les Noces“, „L’Oiseau de feu“ – und jetzt ist seine Musik für uns praktisch verboten, obwohl sie auch schon im Zweiten Weltkrieg als „Entartete Musik“ und zu Stalins Zeit wegen des Formalismus verboten war.

Befürchten Sie keinen Ärger, wenn Sie sich hier so kritisch äußern? In Ludwigsburg haben Sie Tschaikowski kürzlich absagen müssen, hätte das anderenfalls Konsequenzen? Und wie steht es um Prokofjew, der ja Ukrainer ist?

Dieses Problem gibt es jetzt mit allen, die als russische Autoren gelten. Ja, Prokofjew stammt aus Donezk und hat in Briefen geschrieben, er sei ein Junge aus den freien ukrainischen Steppen. Oder zum Beispiel Dmytro Bortnjansky, der für uns als Gründer des Klassizismus in der Ukraine ganz wichtig ist. Aber er hat sein Leben lang in Sankt Petersburg am Zarenhof gearbeitet, das ist eben das Problem. Wo wollen wir diese Grenze ziehen? Wiktor Kossenko ist in Russland geboren, aber zählt als ukrainischer Komponist. Oder Borys Ljatoschynskyj, der bei Reinhold Glière studiert hat und der Moskauer Hochschule verbunden war. Das sind historische Verbindungen!

Und deswegen droht jetzt Ärger, sogar sehr großer Ärger, weil die Politiker ihre Politik machen, aber die Feinheiten unseres Berufs überhaupt nicht verstehen. Das könnte jedoch die kulturellen Perspektiven der Ukraine ruinieren. Es ist leider sehr schwierig, das zu kommunizieren, denn die Masse der Leute wird getrieben – und nur ganz wenige versuchen, sich weiter an die Vernunft zu halten. Ich kann nur hoffen, dass irgendwann wieder darauf gehört wird.

Wächst jetzt ein Hass zwischen den der slawischen Völkerfamilie entstammenden Ukrainern und Russen, der schlimmstenfalls Generationen lang anhalten kann?

Das ist jetzt wirklich ein totaler Haas. Wenn Sie genau schauen, was von russischer Seite der ukrainischen angetan wird, dann ist dieser Hass auch berechtigt. Das übertrifft an Grausamkeit, Terror und Willkür jede Fantasie. Wenn ein russischer Soldat seiner Mutter am Telefon ganz detailliert beschreibt, wie eine Folterkammer eingerichtet ist und was darin geschieht – und sie ist noch daran interessiert, gibt ihre Kommentare dazu ab, das können Sie sich nicht vorstellen. Oder wenn ein Mann seiner Frau erzählt, wie er ukrainische Frauen vergewaltigt, und sie dabei lacht und ihm viel Spaß wünscht, aber er soll sich nicht anstecken – kann man bei solchen Beispielen wirklich noch sagen, wir sind Völker einer Familie?

Es geht jetzt ums Überleben, und deswegen ist diese Identität für uns Ukrainer extrem wichtig. Wir sprechen heute viel mehr über die eigene Sprache, über die eigene Kultur und Geschichte. Für mich als Künstlerin ist es eine pure Qual und Tragödie, diese grausame Katastrophe und Gewalt in meiner Heimat zu erleben.

Eine Tragödie, gilt das auch für das von Ihnen gegründete Jugendorchester der Ukrainer? Dürfen die jungen Leute, vor allem die Männer, überhaupt reisen?

Genau das ist ja die Idee des Jugendorchesters, dass Jugendliche und begabte Kinder aus allen Regionen der Ukraine zusammen musizieren. Gleich nach Ausbruch des Krieges haben uns per Zoom-Konferenz verbunden, das war sehr tragisch, denn manche hatten kein Internet mehr, andere waren nur ganz kurz dabei, weil die Sirenen wegen Raketenangriffen heulten.

Was da jetzt alles passiert, ist unbeschreiblich. Wir haben versucht, möglichst vielen zu helfen, und sind unseren Partnern sehr dankbar. Das Bundesjugendorchester, das Bayerische Jugendorchester und viele namhafte Musikinstitutionen in Deutschland haben Spenden für die Familien der Orchestermitglieder gesammelt. Die Dankesbriefe sind sehr berührend, bei vielen geht es jetzt einfach ums Überleben.

Junge Männer ab 18 dürfen das Land nicht mehr verlassen, aber wir haben jetzt viele Einladungen und sollen zum Beispiel bei Young Euro Classic in Berlin auftreten, beim Festival Junger Künstler Bayreuth, beim Lucerne Festival, beim Beethovenfest Bonn. Die wichtigsten Festivals in Europa wollen uns, ich bin dankbar, dass wir jetzt so im Fokus stehen. Unsere Dokumente sind nun beim Kulturministerium in Kyiv, wenn sie das zulassen, dann hoffen wir, in voller Besetzung reisen zu können.

Wer Krieg als eigene Erfahrung erlebt hat, spielt die Musik anders. Plötzlich spürt man noch mehr, dass klassische Musik tatsächlich heilsam für die Seele ist. Wir müssen alles dafür tun, dass diese Welt besser wird, denn so wie jetzt geht es nicht weiter.

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