Ferner Klang – so das Motto der 13. münchener biennal nach Schrekers Oper „Der ferne Klang“ – war hier im Sonderkonzert der Münchner Philharmoniker umkehrbar zu denken. Einerseits hatten sich die drei chinesischen Komponisten mit der fernen, europäischen Moderne auseinandergesetzt. Andererseits spielte in den entstandenen Werken auch das fernöstliche, musikalische Denken eine Rolle: Ferner Klang für die Zuhörer. Long Yu wagte am Pult mit großzügiger Gestik den kolossalen Brückenschlag. Ein Beitrag zum Jahr der chinesischen Kultur in Deutschland.
Das herausragende Erlebnis dieses Konzerts war zweifelsohne das andersartige Verständnis des Klangkörpers, der vom ersten bis zum letzten Ton als eine nicht auflösbare Einheit wahrnehmbar war. Zumal geformt in weit gedachten Entwicklungen zu bedeutsamen, tief empfundenen Wirkungen.
Am deutlichsten wurde dieses ganzheitliche Empfinden bei Xiaoyong Chen (*1955), dessen „Kaleidoskop der Zeiten“ in der Uraufführung ein beeindruckendes Klangkontinuum zum Fließen brachte, aus dem einzelne Ereignisse organisch empor tauchten. Dem zeitlichen Ablauf setzte der einstige Schüler von György Ligeti aber auch flächige Formen gegenüber, die den Schönklang wie lebende Organismen unentwegt in verschiedene Richtungen dehnten. Überaus feinsinnig färbte Xiaoyong Chen sein Gebilde aus Zeit und Raum, reduzierte auf minimalistische Veränderungen, zog sich schon mal auf einen einzigen Ton zurück, der mit seinem behutsamen klanglichen Changieren zu einem gewichtigen Thema werden konnte. Die Konkretisierung im groß angelegten Höhepunkt wirkte demgegenüber wie eine Flut von Sinnesreizen.
Jia Guoping (*1963) ging im minutiösen Formen in „Kalaviuka“ ähnlich vor, hier ebenfalls in Uraufführung. Das zarte Flirren zu Beginn machte sogleich deutlich, dass hier Vögel die Protagnisten sind. Einst Student bei Helmut Lachenmann suchte er in seiner Komposition eine innige Naturverbundenheit, wie sie in der traditionellen chinesischen Philosophie und Lebensauffassung verwurzelt ist. Kalaviuka, der Inkarnation Buddhas in Gestalt eines Vogels mit menschlichem Kopf gewidmet, vereinigte organisches Hervorgehen mit Kontrasten perkussiver Instrumente, die an rituelle Handlungen erinnerten. Beherrschend blieb jedoch die farbenreiche Imitation von Vogelstimmen, die sich zu großen Chören verbinden, aber auch in luftigen Höhen verklingen konnten.
Die Naturverbundenheit bei Jia Guoping nahm schon reichlich von der Atmosphäre vorweg, die Xiaogang Ye (*1955) in seinem 2004 komponierten Werk op.47 „The Song oft he Earth“ hinterlegte. Sie entstammte aber vielmehr der Rezeption bei Gustav Mahler, dessen „Lied von der Erde“ fast 100 Jahre zuvor dieselbe literarische Vorlage zur Grundlage bekam. Xiaogang Ye nahm jedoch die Original-Gedichtesammlung von Li Bai, Mang Haoran, Qian Qi und Wang Wie in die Hand, um eine Neuauslegung der Texte vorzunehmen. Michaela Kaune (Sopran) und Thomas E. Bauer (Bariton) stellten sich der komplexen Aufgabe, die Gesangsparts in chinesischer Sprache vorzutragen. Der gesangliche Ausdrucksgehalt entzog sich zwar dadurch der Beurteilung, doch die Schlüssigkeit in der emotionalen Entwicklung der Musik überzeugte. Die Unmittelbarkeit der Umsetzung der Worte in Ausdrucksgesten der Musik war an die chinesische Tradition angelehnt. Aber auch harmonische Bezüge oder rhythmische Figuren gingen im beeindruckenden Szenario neben klangmalerischen Stimmungen Mahlerscher Art auf.
Den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Long Yu gelang es jedenfalls überzeugend, den fernen Klang in ein unmittelbares Musikerlebnis zu verwandeln.
Reinhard Palmer