Selbst auf dem Gelände rings um das 100-jährige Festspielhaus Hellerau wachsen sie: Pilze. Dabei dürfte die Gegend durch mehrfachen Missbrauch von Militärs reichlich kontaminiert sein. Das ficht die Myzele nicht an. Aber: Auf den steinernen Treppenstufen des Musentempels im Vorort von Dresden wachsen sie gar mehr als einen halben Meter hoch. Das muss an den TonLagen liegen…
Oft ist es ja so, dass die Macher von Festivals und/oder Events erst nach dem stattgefundenem Auftakt und/oder der Premiere zu einer Rede anheben, die das eben Gesehene und/oder Gehörte mitsamt allen Mitwirkenden so hoch in den Himmel loben, dass kritischere Gäste meinen, im „falschen Film“ gewesen zu sein. Doch bei den diesjährigen TonLagen, dem Nachfolge-Festival der vor 25 Jahren gegründeten Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, war das ein klein wenig anders. Hausherr Dieter Jaenicke setzte vor der künstlerischen Eröffnung zu huldvollen Worten an, ein Bürgermeister folgte und hangelte sich am Vokabular entlang, das solch ein Festival inmitten der sich um Aufnahme in die Weltkulturerbeliste bewerbenden Gartenstadt Hellerau selbstredend vorgab. Der für Kultur zuständige Stadtpolitiker ließ sich vom Baudezernenten vertreten. Und nach der Premiere wollte niemand mehr darüber sprechen. Obwohl sie eine Uraufführung war: „Fernorchester“ von Hannes Seidl und Daniel Kötter.
Ein Fernorchester ist noch kein Fernsehen, klar; doch auch knapp zwanzig Fernsehgeräte auf der Bühne erschaffen nicht das Gefühl von Ferne, von Weite, wenn der innere, der schlüssige Konzentrationspunkt fehlt. Dann implodiert das Ganze. So geschehen zur TonLagen-Eröffnung, die substanzlos beliebig geriet, auf Musik erst ganz und bis zum Schluss noch immer viel zu sehr verzichtete. Man muss dazu nicht einmal wissen, dass der Begriff „Fernorchester“ in Dresden spätestens seit den spektakulären Aktionen der Dresdner Sinfoniker schwer positiv vorbelastet ist. Dieses Projekt hat die Latte nicht nur nicht gerissen, sondern beim Unterwandern wohl nicht mal erblickt.
Aber als Höhepunkt des Festivals TonLagen 2012 stand ohnehin eher das zentrale Wochenende mit einem kräftig beworbenen John-Cage-Spezial „Für die Vögel“. Das war programmatisch und dramaturgisch klug konzipiert schon wegen der Tatsache, dass Jubilare zu ihren Jubiläen oftmals recht totgespielt werden und nach solchen Alibi-Wiedererweckungen in der Vergessenheitsecke verschwinden. Aber Dieter Jaenicke und seinen Mitstreitern war es offenbar ein wichtiges Anliegen, den 1992 mit knapp achtzig Jahren verstorbenen Cage als nachhaltigen Multiplikator zu begreifen. Vermittelt wurde dies bereits vorab bei einem Prolog vor Schülerinnen und Schülerin – so wird auch jüngste Musikgeschichte lebendig!
Während des durchaus als Spektakel begriffenen Cage-Wochenendes wurden eher beiläufig Kategorien von Freiheit, Strenge und Zufall berührt, sind Ton und Stille als relativ gleichberechtigt hörbare Qualitäten nahezu unterschwellig und unaufdringlich vermittelt worden. Ob das Publikum auf verschiedenen Klang-Touren durch die Räume des ja ebenfalls gerade hundertjährigen Festspielhauses gepilgert ist, um Kurzstücken von Cage aus knapp fünfzig Jahren nachzuspüren – vom großartigen „45' für einen Sprecher“, vorgetragen von Olaf Bär, über mehreren „One“-Musiken bis hin zu einem alles vereinenden „MiniMusicCircus“, dem weit nach Mitternacht noch Bachs „Goldberg-Variationen“ und ein schlafwandlerisches Happening bis zum gemeinsamen Frühstück folgten – oder ob es sich mit dem Cellisten Jan Vogler erst auf Pilz- und dann auf Tonsuche begeben hat, Cages „One“-Film auf sich wirken ließ und der Stille von „4'33“ lauschte, es hat über die Vielfältigkeit des Meisters nur so staunen können. Kleine und große Ensembles, das Elole-Klaviertrio, das Sonar Quartett, die Pianistinnen Julia Aldinger und Pi-Hsien Chen, die Sänger von AuditivVokal, das Ensemble Garage, die Dresdner Philharmonie und nicht zuletzt das zeitweise mit eigenen Partituren zum Mitwirken ausgestattete Publikum haben sich ganz auf den Klangkosmos John Cage eingelassen.
Freilich hätte fast jedem Puzzlestück dieses Projekts noch mehr Zuhörer gewünscht werden können. Aufwand und Teilhabe hielten sich nur schwerlich die Waage. Das war schon beim Komponistenporträt von Jani Christou so ähnlich – der 1970 mit nur 44 Jahren gestorbene freie Radikale ist vom Dresdner Ensemble Courage in einem erstaunlichen Engagement gewürdigt worden –, und selbst beim sehr wohlwollend aufgenommenen Gastspiel des chinesischen Ensembles Contempo Beijing wäre noch mehr Aufmerksamkeit sinnvoll gewesen. Dessen von traditionellem Instrumentarium geprägte Querschau zu Chinas musikalischer Moderne verband fernöstliche Klangvorstellungen auf interessante Weise mit experimentellen Formen einer längst globalisierten Kultur.
Das Festival TonLagen dauert noch bis zum 13. Oktober und beinhaltet bis dahin Performances für fünf Kontrabassklarinetten, für Elektronik, Percussion und Streichquartett und soll mit einer jazzigen Wochenend-DJ-Party ausklingen.