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Holpriges Wagner-Recycling: Isaac Albéniz' "Merlin" in Gelsenkirchen. Foto: Musiktheater im Revier
Holpriges Wagner-Recycling: Isaac Albéniz' "Merlin" in Gelsenkirchen. Foto: Musiktheater im Revier
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Puder auf Charaktermasken: Isaac Albéniz’ Oper „Merlin“ am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier

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Dass große weltgeschichtliche Tatsachen und Personen sich immer zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, ist zwar eine ältere, aber noch immer durchaus treffende Philosophen-Einsicht, von der wir jetzt, vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sagen können: Sicher gilt sie nicht nur für die hehre Weltgeschichte, sondern auch für die der Oper im allgemeinen, für die jüngste Produktion am MIR, am Gelsenkirchner Musiktheater im Revier im besonderen.

Björn Waag leiht seinen strahlenden Bariton der okkulten Figur des Zauberers Merlin, der in britischen Geschichtsquellen des hohen Mittelalters auf höchst wackligem Grat zwischen Fakten und Fiktion mit dem sagenhaften König Artus zusammenmontiert wird. Für Artus ist Merlin gewissermaßen der Mann fürs Grobe. Auf sein Geheiß eint Merlin die Briten – mit Schwert und harter Hand wie überhaupt die Artus-Legende im sprichwörtlichen britischen Nebel heraufdämmert, von dort über die Schreibtische des Chrétien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach wandert und Mitte des 15. Jahrhunderts von Thomas Malory zu einer kompletten Artus-Lebens- und Sterbenssaga ausgewalzt wird: Grundlage für die Oper „Merlin“ in drei Akten, Teil 1 einer unvollendet gebliebenen Artus-Trilogie von – Isaac Albéniz.

Womit sich zunächst die spannende Frage ergibt, weshalb ausgerechnet der damalige königlich-spanische Hofkomponist, der Schöpfer der Iberia und anderer Klavierkostbarkeiten einen dampfenden nordischen Reichsgründungs- und Reichsuntergangsmythos vertont? Die Antwort zeigt uns einen Albéniz, der selber tief verstrickt ist in ein quasi-mythisches Verhängnis. In London, wo er um die Jahrhundertwende lebt, macht er die Bekanntschaft eines Hobbydichters und nebenberuflichen Bankers mit dem kongenialen Namen Money-Coutts. Besagter Geld-Mensch macht dem Komponisten ein Angebot: Wenn er, wenn Albéniz alles zu Musik zu machen verspricht, was Money aufsetzt, ist er alle materiellen Sorgen los! Albéniz willigt ein, verkauft für einen pfundigen Monatsscheck seine Komponistenseele an den betuchten Amateurpoeten, dessen Artus- respektive Merlin-Libretto dann freilich ganz und gar im Banne Wagners steht, so dass sich auch Albéniz gemüßigt fühlt, Money’s absonderliches auf Alt getrimmtes Englisch dem Wagnersound anzupassen.

Bis in wörtliche Zitate hinein hat dieser Merlin Lohengrin-, Tristan-, Ring-, Parsifal-Material angesogen, ohne dass doch die dramaturgische Höhe Wagners erreicht wäre – zu nebulös der Plot, zu eindimensional die vorgestellten Charaktere. Nivian zum Beispiel, die Gegenspielerin Merlins. Ihr Weg vom hörigen Beutestück zur Rachegöttin ist purer Schematismus. Tiefen-Verwicklungen, Tiefen-Verbindungen nach der Idee Senta-Holländer, Isolde-Tristan sind diesem Stoff, dieser Stoffbehandlung fremd.

Was die Regie im Ganzen vor ein Rätsel gestellt hat. Roland Schwab lässt es unaufgelöst, weiß sich nicht recht zu entscheiden. Als Roadmovie lässt er seinen Merlin in Gelsenkirchen mit großer Kino-Spannung beginnen, nur um diesen Faden überraschend kampflos wieder aus der Hand zu geben. Exzessiv seine Anleihen bei den Mittelalter-Markt-Spektakeln: Kutten, Krieger, Kreuze, eine kindische Schwertprobe plus (Schabs Reverenz an den Horror-Film) abgeschlagene Köpfe, blutüberströmte Leichen auf dem Dach jener Limousine, mit der Merlin zu unheilvollem Grummeln der Kontrabässe die Szene betreten hat. Schließlich ein groteskes Finale mit Maibäumchen und Unschuldstänzerinnen ganz in weiß, die Anmutung einer Walt-Disney-Persiflage. Das alles passt nicht wirklich zusammen, weshalb auch nicht das Theaterblut und der in Gelsenkirchen unablässig versprühte Theaternebel weiterhelfen. Puder auf den Charaktermasken von vorgestern. Hoffentlich sieht keiner, dass nichts drin und dran ist an diesem Stück …

So hilflos-aktionistisch diese Neuproduktion mit den Flügeln schlägt – das MIR selbst befindet sich ganz im schönsten Theater-Aufwind: 85 % Auslastung in Oper/Musical, 70 % im Konzert. Die Preise moderat erhöht um 10%, das Spielangebot aber um 20%. Man wird angenommen im Revier. Was vielleicht ja auch der Grund gewesen ist, der Versuchung nachzugeben, den einhundertjährigen Dornröschenschlaf dieses holprigen Wagner-Recyclings zu beenden und Merlin nach der szenischen UA 2003 am Teatro Real in Madrid hier als DE präsentieren zu können. Doch abgesehen von den Lichtblicken Sängerriege und einer hellwachen Neuen Philharmonie Westfalen unter Heiko Mathias Förster wären die Meriten dieser Produktion damit auch schon aufgezählt ...

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