„Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“. Die Untertitel zu Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ (1930) haben darüber spekulieren lassen, an welchen Stummfilm, ja ob er überhaupt an eine konkrete Vorlage gedacht habe – oder nicht vielmehr an eine ahnungsvolle Horror-Vision kommenden Unheils, analog zu Siegfried Kracauers Buch „Von Caligari zu Hitler“. Drei Filmversionen haben, höchst unterschiedlich, die tönende Beunruhigung beklemmend bebildert, doch die vierte verlegte sich auf die Burleske: Ausgerechnet der „Seher“ Klaus Michael Grüber hat in Brüssel Schönbergs Werk mit einem Kino-Klassiker kombiniert.
In „A Night at the Opera“ der Marx Brothers sind diese blinde Passagiere auf einem Dampfer nach Amerika. Vor einer Kontrolle flüchten sie in ein Kabuff, immer mehr drängen hinein, bis die Tür aufbricht, alle herauspurzeln: die Apokalypse als lustiges Platzen einer Blase. In Donaueschingen fühlte man sich daran erinnert, hängt doch die Auflösung des SWR-Orchesters als Damokles-Schwert über der Region. Durch die Fusion mit dem Stuttgarter Funk-Orchester glaubte man, sechs Millionen sparen zu können; für ein so reiches Land wie Baden-Württemberg wahrlich „peanuts“.
Abgesehen von der skurrilen Wiederauflage eines schier Bismarckschen „Kulturkampfs“, bei dem sich die Landeshauptstadt im protestantischen Schwaben auf Kosten des eher katholischen, traditionell weniger staatsfrommen Baden durchsetzt. Nun kam die Komik-Pointe: Von der Schnapsidee eines Jugend-Kanals für die 14- bis 29-Jährigen (!) kamen die Sender-Gewaltigen ab; wohl weil ihnen dämmerte, dass „Jugendliche“ einen ganz anderen Medien-Konsum pflegen, in Fernsehen, Kino und Computerspiel Dinge sehen wollen, nicht immer sollen, von denen die Planer kaum Ahnung haben. Mit der Aufgabe des Projekts würden gut 30 Millionen frei, mit denen sogar beide Orchester letztendes unterhalten werden könnten. Gelingt das nicht, ist es fraglich, ob Donaueschingen ab 2016 noch auf dem bisherigen Niveau erhalten werden kann, sind doch Eröffnungs- und Schlusskonzert Domäne des Orchesters Freiburg/Baden-Baden. Dass das fusionierte Orchester überhaupt jemals die hohe Spielqualität und Kompetenz erreichen kann, darf bezweifelt werden.
Die Verunsicherung lastete natürlich auf dem Festival, manifestierte sich in anspielungsreichen Aktionen samt mancherlei Galgenhumor. So attackiert Manos Tsangaris mit seinem „Mistel Album“ in gleich drei Phasen die Orchester-Abschaffung und der Devise „Schwindel der Wirklichkeit“, die keineswegs zufällig an Roland Barthes’ grandiosen Satz denken lässt: „Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der Objektivität.“ Denn gerade die so überaus „realen“ Sparzwänge erweisen sich als fiktiv. Dabei verfährt Tsangaris raffiniert kreativ, indem er eine skurrile Sonderform des Melodrams erfindet. Da hört man eine nichtendenwollende Nachrichtensprecherin, die ganz sachlich zunächst das Übliche verliest; doch je länger das dauert, umso deutlicher wird der Charakter der Real-Satire – bis hin zur Ankündigung, dass der Jugend-Kanal nicht kommt. Wirkliches und Erfundenes sind ununterscheidbar; und die zunehmende, farbig-fragmentarische Beteiligung des Orchesters wird zum interaktiven Vexier-Bild. Der zweite Teil konterkariert des Dirigenten Allmacht, indem das Orchester nur so tut, als würde es engagiert spielen, in Wirklichkeit aber nichts erklingt. Im dritten Teil wird konstatiert, dass das Orchester in der verordneten Stratosphäre verglüht, wozu sich dieses im dunklen Saal verkrümelt: Endspiel-Abschied. Ein wenig Kagelsches Verwirr-Ritual wirkte da nach, doch war es eine auch musikalisch griffige Subversion aus gegebenem Anlass.
Fast reflexhaft setzt man neu mit jung gleich. Doch nun wurde Adornos „Altern der neuen Musik“ personale Realität. Zwei über achtzigjährige Komponisten und ein bald achtzigJähriger standen im Programm: Dass Lebensleistungen gewürdigt werden sollen, man nicht dem Jugend-Wahn verfallen muss, versteht sich. Und gegen keine der Uraufführungen ist etwas zu sagen. Friedrich Cerha etwa beschwört in „Nacht“ abermals den romantischen Grund-Topos, baut, sogar über Orgelpunkten, ruhig-differenzierte Klang-Räume auf, die er, fast rondoartig, durch immer dichtere „Vorhänge“ gliedert.
Das ab und an Berg durchklingt, wundert und stört nicht. Hans Zender hält zwar Distanz zu den mitunter neotonalen „Spektralisten“, doch leidet auch er am Kompromiss der „verschmutzten irrationalen Klänge des temperierten Systems“, möchte den 7. und 11. Oberton in dieses integrieren. Davon zeugt „Oh cristalina“ für Stimmen und Instrumente auf sakrale Texte des Juan de la Cruz; wobei allerdings der „reine“ Charakter auch zum Starren tendiert.
Hanspeter Kyburz geht ebenfalls von abendländisch-erhabener Literatur aus, Vergils „Aeneis“, wieder einer, diesmal düsteren Nacht-Vision. Ohne in irgendeine Programmatik zu verfallen, geht es ihm um einen Weg ins Ungewisse, den er orchestral immer wieder neu einschlägt. Das mag im Einzelnen nicht stets neu sein, ist aber im ständigen Perspektivenwechsel packend.
Die Avantgarde tat sich mit der Gattung des Instrumentalkonzerts schwer, zeugte sie doch von Solisten-Dominanz gegenüber hierarchiefreier Struktur. Wenn nun in Donaueschingen gleich drei konzertante Uraufführungen erschienen, lässt dies zumindest auf einen Sinneswandel schließen. Wolfgang Rihm hat nach Violine, Cello und Klarinette auch Horn, Klavier, Klaviertrio und jetzt Trompete solistisch bedacht, für Koryphäen des Instruments geschrieben, so für den fabelhaften „Musikfabrik“-Trompeter Marco Blaauw. Es ist eine hochvirtuose tour de force, so bewundernswert souverän komponiert wie interpretiert. Fragen tauchen gleichwohl auf: Hat die Trompete nicht noch andere Qualitäten als die strahlender Attacke, gibt es nicht auch tiefe Lagen, pianissimo-Aura, Flageoletts, „multiphonics“, Geräusch-Verfremdung? Natürlich ist das Ganze nicht eindimensional; aber Blaauw hätte vermutlich noch andere Möglichkeiten. Seit dem Sommer sind vier Instrumentalkonzerte Rihms uraufgeführt worden, und die Sicherheit der Schreibweise imponiert stets aufs Neue. Aber das Potenzial wirkt mittlerweile recht arrondiert. Rihm hat sich stets, oft zurecht, gegen den Vorwurf verwahrt, er schreibe zu viel und zu schnell, berief sich dabei auf Bach, Mozart, Schubert oder Strawinski. Aber Nonos Rat: „Wolfgang, du brauchst eine Krise“, war wohl nicht nur rhetorisch gemeint.
Außerdem gab es zwei Klavierkonzerte extrem gegensätzlicher Art. Des Tschechen Krystof Maratka „Mélodictionnaire“ läuft auf späten Neoklassizismus hinaus, operiert mit melodischen Signaturen, rasantem Passagenwerk, gischtenden Glissandi und zupackender Rhythmik, auch Ostinati: ein virtuoses Spielwerk ohne allzuviel programmatischen Ballast. Sehr viel ambitionierter dagegen präsentierte sich Simon Steen-Andersens Piano Concerto für Nicolas Hodges im Zeichen einer wahrhaft dekonstruktivistischen Ästhetik. Da geht es nämlich nicht nur um den „normalen“ Flügel, sondern auch um einen kunstvoll zerstörten und wieder zusammengesetzten, den man per Video zu Boden krachen sieht. Auf dem zurechtgeflickten wird gleichwohl via Sampler gespielt, wobei der reale und virtuelle Hodges quasi doppelgängerisch dialogisieren. Natürlich klingt das Trümmer-Instrument kläglich, lässt ans Spiel des tauben Beethoven denken, dessen Flügel nur Rascheln und Klappern von sich gab, weil Saiten wie Hämmer kaputt waren. Prompt wird denn auch der Kopfsatz von Op. 101 zitiert. Mit dem Kunst- und Kino-Topos der massakrierten Instrumente, auch dem Amalgam von Klavier- und Orchester-Klängen, wird surreal gespielt. Nur zum Schluss wird das makabere Quid pro quo arg ins Poppige gewandelt, wenn der Video-Flügel im Takt auf und ab hüpft.
Zwei andere Werke des Abschlusskonzerts exponierten ebenfalls Solopartien: So verwendet Brice Pauset in „Un-Ruhe“ ein Cembalo und eine hauptsächliche Sprech-Stimme zur Verdeutlichung hochfliegender Gedanken, die sich allerdings nicht recht vermitteln wollen. Ondrej Adámeks „Körper und Seele“ führt zu Chor und Orchester ein solistisches Klang-Gerät ein: „Air Machine“ nennt er sein technisch raffiniertes pneumatisches Aggregat, das groteske Euter-Hände aufbläst und alle möglichen Luft-Klang- und Form-Erzeuger-Aktivitäten bereithält. Das ist stets hübsch anzusehen und zu hören, erinnert an manch Dadaistisches bei Cage, Kagel oder Günter Weseler, während Chor und Orchester sich in knackiger Kollektiv-Folklore ergehen – wobei nicht immer klar wird, was Reminiszenz und was Parodie ist. Zu den Altmeistern gehört mittlerweile auch Salvatore Sciarrino (geb. 1947), dessen „Carnaval“ weit weniger auf den feurigen Wirbel von Schumanns Klavier-Zyklus zielt als auf den einer Odyssee durch Fremde wie Nähe voller Masken – eher in der Madrigal-Tradition. Die wird perfekt-virtuos-suggestiv erfüllt: Sechs Stimmen und zehn Instrumente sorgen für ein Labyrinth von Mini-Seufzern und –Gesten, wie man sie von Sciarrino lange kennt. Der Wiedererkennungswert ist entsprechend hoch, die bannende Wirkung stellt sich nach wie vor ein, auch dank der mirakulösen Interpretation.
Motto des Festivals war „und“ als Verweis auf mediale Parallelen und Grenzüberschreitungen, nicht zuletzt bei Doppelbegabungen, aber auch auf technologische Erweiterungen – wie etwa bei der Kanadierin Chiyoko Szlavnics: „Inner Voicings“ entfaltet Linien und Perspektiven auch mithilfe des SWR-Experimentalstudios zu fragil-auratischen Klang-Gebilden, apart, aber letztlich glatt. Ebendies wäre zu Peter Ablingers „points & views“ zuallerletzt zu sagen, einem radikal konzeptualistischen Werk, bei dem das Ensemble Modern, Video-Projektionen und Sprach-Patterns ein verwirrendes Dickicht gänzlich heterogener Klänge, Bilder und Semantik-Partikel stiften, in dem man unablässig nach Zusammenhängen sucht, die mal aufscheinen, mal völlig verweigert werden. Es war das kontroverseste Werk des Festivals, als experimenteller Pfahl im Fleische neuer Behaglichkeit umso notwendiger. Das schliesst nicht aus, dass Brian Ferneyhoughs „Inconjunctions“ in ihrer immanenten strengen Komplexität nicht eben wenig für die gute, alte Avantgarde-Autonomie sprachen.
In ganz anderer Weise als Ablinger erregte auch Jennifer Walshe Zustimmung wie Ablehnung. „The Total Mountain“ der irischen Komponistin und Performerin erwies sich als dynamisch-buntscheckiges „Concetto“ voller Alltags-Trash, abenteuerlicher Tier-masken und verschlungener Anspielungen auf Joyce und seinen „Ulysses“. Da bleibt kein Stein auf dem anderen; und doch entfaltet das Ganze einen inneren Sog, dem man sich nicht ohne weiteres entziehen kann. Demgegenüber wirkte Chris Newmans „Explanation“ mit Streichquartett, Gemälden und Video-Zitaten von Sirk- und Antonioni-Filmen sehr viel asketischer in der säuberlichen Trennung der Komponenten. Wie jedes Jahr wurde auch diesmal der Karl-Sczuka-Preis für „Akustische Spielformen“ verliehen: an den Schweden Carl Michael von Hausswolff für „Circulating over Square Waters“, eine gut halbstündige statisch-monotone Sound-Installation. Doch wenn Andy Warhol eine Stunde das Empire State Building abfilmte, war das Einspruch gegen die Ideologie von Action und Sensation. Ist diese Provokation abgegolten, wirkt solch selbstgenügsame Klang-Kunst nicht mehr so aufregend.
Ein Wechselbad bereitete die Jazz-Session. Die sieben Trompeter um den Libanesen Mazen Kerbaj spielten nicht nur fulminant, sondern verfremdeten ihre individuellen Klangproduktionen aufs Phantastischste. Etwas von dieser Nuancen- und Geräusch-, auch Perkussions-Vielfalt hätte Rihms Trompeten-Konzert gewiss nicht geschadet. Die vier Vokalisten, deren Vornamen alle mit J beginnen, enttäuschten, weil sie sich allzusehr auf die Live-Elektronik, einschließlich der Kurzschluss-Kracher verließen. Zumal derlei Noise-Ästhetik alles andere als neu ist.
Es war ein Jahrgang heterogenster Phänomene, in der Bündelung gleichzeitiger Ereignisse leicht überladen. Alle Aufführungen, Ausstellungen und Installationen zu besuchen, war kaum möglich. Aber allemal lieber ein zu üppiges als ein skelettiertes Programm.