Münchens Musikszene ist im Aufruhr. „Thielemann muss bleiben!“ – so titelt Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung seinen erzürnten Kommentar zum bevorstehenden, nicht ganz freiwilligen Rückzug des Dirigenten vom Chefposten der Münchner Philharmoniker. Bedrohliche Töne stößt auch der Oberste Rechnungshof Bayerns gegen den Bayerischen Rundfunk aus: Dieser sollte mittelfristig speziell sein Symphonieorchester aus dem Sender organisatorisch ausgliedern. Dabei hat der Bayerische Rundfunk gerade für seine drei Klangkörper – Symphonieorchester (SO), Rundfunkorchester (RO) und Chor – ein eigenes Label gegründet: BR-Klassik. Siehe dazu unseren Bericht auf Seite 10 dieser Ausgabe. Zum Thema Thielemann steht etwas in unserem „Nachschlag“ auf Seite 12.
Es ist immer dasselbe: Ein Rechnungshof oder ein Wirtschaftsprüfer untersucht eine Institution, die „Kunst“ produziert und verwechselt den komplexen Herstellungsprozess von „Kunst“ mit der Fabrikation eines industriell gefertigten technischen Gegenstands. Entsprechend lesen sich dann die superklugen Empfehlungen, die vor allem eines auszeichnet: Ahnungslosigkeit. Da werden fleißig Statistiken ausgewertet, Sendeminuten für Chor und Orchester addiert, die Kosten pro Minute errechnet – die natürlich weit höher sind als die Kosten für Wortsendungen oder eine Jazzcombo, schließlich müssen beim Bayerischen Rundfunk rund zweihundert Musiker und Chorsänger ihr Gehalt bekommen.
Wem diese Ausgaben im Vergleich zu anderen Abteilungen des Senders und mit Blick auf den Gesamtetat als unangemessen hoch erscheinen, dem sei noch einmal die schon zur Anekdote avancierte Argumentation des Schweizer Kulturkritikers Urs Frauchiger ins Gedächtnis gerufen, die er in einer Rundfunkdiskussion über die so genannte Quoten-Frage formulierte: „Wenn ein Hörer Schönberg hören möchte und hundert James Last, dann heißt die Lösung nicht, eine Stunde Schönberg senden und hundert James Last, sondern eine Stunde Schönberg und eine Stunde James Last.“ So erhält jeder Einzelne eine Stunde lang seine Musik, das sei, so Frauchiger, „wahre Demokratie“, weil sie auch der Minderheit zu ihrem Recht verhilft. Frauchingers Worte möchte man am liebsten als große Tafel im Eingang eines jeden Funkhauses anbringen.
Die Ratschläge des Obersten Rechnungshofes für die Klangkörper basieren nach eigenem Bekunden auf Ermittlungen für den Zeitraum 1998 bis 2004 sowie einigen vom Sender übermittelten Kosten- und Leistungsdaten für das Jahr 2007. Allein schon diese retrospektive Sicht ist mehr als fragwürdig. Gerade in letzter Zeit haben sich in den Sendeanstalten positive Verbesserungen hinsichtlich Programmpräsenz und Kostenbewusstsein der hauseigenen Orchester und Chöre ergeben.
Der Chor des Bayerischen Rundfunks veranstaltet inzwischen eine eigene Konzertreihe, die mit tausend Abonnenten pro Konzert komplett ausgebucht ist. Die Programme werden in enger Abstimmung mit dem Hörfunk entwickelt. Rund die Hälfte der aufgeführten Werke sind Erst- oder Uraufführungen und erweitern als Mitschnitte das Schallarchiv. Was Rechnungsprüfern gern völlig aus dem Blick gerät, sind gewachsene kulturelle Strukturen. Wer die Orchester und Chöre der Rundfunkhäuser nur als Musiklieferanten fürs Programm nebst Schallarchiv betrachtet, kennt nicht die Leistungen, die von den Ensembles in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg für die Musikkultur dieses unseres Landes und darüber hinaus für die Weltmusik insgesamt erbracht wurden. Die imponierende Breite Neuer Musik, die sich nach den unheilvollen zwölf Jahren des Dritten Reiches entfaltete, die zugleich wieder den intellektuellen Diskurs mit anderen Völkern beförderte – das alles wäre ohne den Einsatz der Rundfunksender und ihrer großartigen Orchester und Chöre nicht möglich gewesen.
Dabei sind die Orchester selbst zu einem Kunstgegenstand avanciert, kostbare, vielgestaltige und hochsensible Gebilde, die man nicht eben mal so ausgliedern kann, ohne ihre künstlerische Identität zu gefährden. Diese Identität gehört zugleich auch zur Identität des jeweiligen Senders. Sie ist deren schönste Visitenkarte.
Wer bei der Vorstellung des BR-Klassik-Labels die Äußerungen der anwesenden leitenden Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks hörte, gewann den Eindruck, dass diese die Position „ihrer“ Klangkörper ebenso sehen: als unabtrennbaren Bestandteil der eigenen Radiokultur.
Was hier vor allem für den Bayerischen Rundfunk aus aktuellem Anlass gesagt ist, gilt ebenso für alle anderen Sender mit eigenen Orchestern. In Erinnerung kommt dabei jener Vorgang, als ein uneinsichtiger Intendant den für die Neue Musik kompetentesten Chor seines Hauses zu dezimieren versuchte. Dieser Chor, das Vokalensemble des Südwestrundfunks, hat die Attacke auf seine Existenz glücklicherweise überstanden, nicht zuletzt auch wohl, weil es aus der ganzen weiten Musikwelt Proteste hagelte. Auch damals vernahm man dieselben „schiefen“ Argumente wie jetzt beim Bayerischen Rechnungshof. Zum Glück steht dessen Ansinnen auch die Person des Chefdirigenten des Symphonieorchesters entgegen: Mariss Jansons, dessen Vertragsverlängerung über 2011 gerade verhandelt wird, dürfte es sich nicht gefallen lassen, wenn man ihn mit seinen Musikern in irgendeine Auffanggesellschaft umsiedelt. Joachim Kaiser, Münchens musikalisches Gewissen, müsste auch noch „Jansons muss bleiben!“ schreiben, was dann sicher nichts mehr nützen wird.
Zum fragwürdigen Rechnungshofbericht gesellt sich übrigens ein kleines Satyrspiel. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Westdeutscher Rundfunk und Bayerischer Rundfunk hohe Summen bei den Hypo Real Estate-Pleitiers angelegt haben, angeblich gesichert, aber wohl nur, weil inzwischen der Bund bei der Bank das Sagen hat. Auch über diese Vorgänge würde man gern etwas in einem Rechnungshofbericht lesen, aber nicht erst in zehn Jahren.