Musikalische Jubilare gibt es viele im Jahr 2010: Frédéric Chopin, Gustav Mahler, Robert Schumann, Hugo Wolf. Wahrscheinlich ist Robert Schumann derjenige, bei dem es am meisten zu entdecken gibt – auch beim Rheingau-Musik-Festival 2010.
„Schumann ist für die Musikwelt verloren“. Das anregende Programmheft des Festivals zur Aufführung der „Szenen aus Goethes ‚Faust’“ im Kloster Eberbach zitiert diese These Reinhard Brembecks (aus der Süddeutschen Zeitung vom 7.6.2010). Brembecks Ansicht, dass Schumann „Verständlichkeit und Außenwirkung nicht als musikalischen Auftrag begreift“, blendet zwar die Entwicklung des Komponisten in den 1840er Jahren aus. Doch der Hinweis auf Schumanns „filigran verästeltes Klangdenken, das Genauigkeit über Effekt stellt und exakt seine Reaktion auf die Unbilden der Welt dokumentiert,“ hat Gewicht.
Schon in der ersten Festival-Hälfte gab es neben den „Faust-Szenen“ ein weiteres großes Vokalwerk: „Das Paradies und die Peri“. Beide Male zielte Schumann auf öffentliche Resonanz. Der zweite Teil des „Faust“, nach des Dichters Tod posthum veröffentlicht, war umstritten und musste noch Jahrzehnte auf die erste Bühneninszenierung warten. Heute verstellen die kanonische Stellung des Dramas und seine Stilisierung zum deutschen Nationalmythos ab Ende des 19. Jahrhunderts den Blick auf Schumanns waches musikalisches Konzentrat des „Faust“-Stoffes.
„Das Paradies und die Peri“ stützte sich auf eine unter den gebildeten Zeitgenossen auch in Deutschland populäre Lektüre: Die Erzählung „Lalla Rookh“ des irischen Dichters Thomas Moore. Das Märchen von der Peri, die als Kind eines gefallenen Engels den Weg zurück ins Paradies sucht und dazu „des Himmels liebste Gabe“ liefern soll, führt den Hörer nach Indien, Afrika und in die arabische Welt. Weder der heroische Opfertod eines jungen Mannes nach fehlgeschlagenem Tyrannenmord noch der tapfere Liebestod der Geliebten eines Pestkranken rühren den Himmel, sondern erst die Reuetränen eines Verbrechers angesichts eines unschuldig spielenden Kindes – eine bei aller exotischen Verkleidung durchaus christliche Moral gemäß dem Gleichnis vom verloren Schaf (Lukas 15). In Freiheitskampf und Epidemie erkannten Schumanns Zeitgenossen aktuelle Sujets. Aus heutiger Sicht reizt vielleicht eher der interkulturelle Blick.
Kölner Kammerchor und Collegium Cartusianum und ein Solistenensemble unter Peter Neumann taten sich in der halligen Basilika von Kloster Eberbach zunächst etwas schwer, steigerten sich dann aber zu einer transparenten und ansprechenden Interpretation, der man dennoch etwas mehr Feingefühl gewünscht hätte. Phrasierung und Linienführung könnten klarer sein, die Übergänge bewusster gestaltet, die Tonartwechsel deutlicher empfunden. In wesentlich stärkerem Maße noch gilt dies für die „Faust-Szenen“ mit dem Kammerchor Stuttgart und der Klassischen Philharmonie Stuttgart unter Frieder Bernius an gleicher Stelle.
Hier verschwammen den ganzen Abend über die orchestralen Konturen bedenklich; mehr als einmal gerieten Intonation und Rhythmus ins Wanken. Mit gefühligen Violinpassagen und schmetternden Trompetensignalen hangelte sich die Aufführung an Oberflächenreizen entlang und vernachlässigte sowohl die dialogischen Strukturen des Tonsatzes als auch die kontrapunktische Linienführung. Manche Unsicherheiten dürften dem unglücklichen Umstand geschuldet gewesen sein, dass gleich zwei Solisten (Hans-Christoph Begemann und Sarah Wegener) in einer Hauptrolle kurzfristig eingesprungen waren, manche Übersteigerungen in Lautstärke und Tonfall auch der Pathos-Falle, in die man als Interpret leicht gerät, wenn man Goethes „Faust“ mit einem Monument verwechselt. Dennoch stellte sich zunehmend die beunruhigende Frage, wann und wie mit diesem Orchester geprobt wurde. Einen ganz anderen Eindruck hinterließ der Chor. Sauber einstudiert, eindrucksvoll in seiner Geschlossenheit, nuanciert im Klang, überzeugend in seiner Transparenz, rettete er den dritten Teil des Werkes (Fausts Verklärung), in dem ihm die Schlüsselrolle zufiel. Der Bass Konstantin Wolff beeindruckte in fein abgestufter Rollenzeichnung als Mephisto, Böser Geist und Pater Profundus.
Das 20. Komponistenporträt des Rheingau-Musik-Festivals war der Komponistin Kaija Saariaho gewidmet. Moderator Ilja Stephan, gut präpariert und engagiert, fragte sie beim Komponistengespräch auf Schloss Johannisberg im Hinblick auf Sujets wie die Oper „L’amour de loin“, ob sie denn ein „romantischer Mensch“ sei. Saariaho zeigte sich reserviert und antwortete ausweichend. Auch zur naheliegenden Frage nach der Bedeutung des Themas „Weiblichkeit“ für ihr Komponieren wollte sie nicht Stellung nehmen.(„Das ist Ihre Interpretation.“) Immerhin beschrieb sie ihr kompositorisches Ethos mit den Worten „purity“ („Reinheit“) und „honesty („Ehrlichkeit“), wobei durchaus ein gesellschaftskritischer Unterton mitschwang.
Während Saariaho für Instrumente akribisch und einfallsreich komponiert, wirkt ihr Umgang mit der menschlichen Stimme eher konventionell. Ihr Liedzyklus „Quatre Instants“ für Sopran und Klavier, engagiert vorgetragen von Pia Freund und David Lively, litt sogar unter einer Überdosis von ungebrochen gefühligem Pathos. Faszinierend hingegen wirkte „Aile du Songe“ für Flöte und Orchester, das die Flötistin Camilla Hoitenga zusammen mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der finnischen Dirigentin Susanna Mälkki interpretierte. Die sechs Abschnitte des Werkes sind benannt nach Gedichten aus dem Zyklus „Oiseaux“ des französischen Dichters Saint-John Perse (1887-1975), und tatsächlich ruft der silbrige, modulationsfähige Klang der Querflöte die Assoziation von Vogelstimmen hervor. Neben einer fast unbeschreiblichen Vielfalt von Klang- und Geräuscheffekten beeindruckten das organische Fließen der Musik, das reizvolle Wechselspiel mit dem Orchester und die stimmungsvolle Atmosphäre.
Wo das poetische Element zurücktritt und der Titel mehr auf die Konstruktion zielt, wirkt Saariahos Musik schwächer. „Solar“ für 12 Instrumentalisten beruht auf dem Kreisen um einen zentralen Akkord. Es ist - auch wegen der dezent eingesetzten elektronischen Effekte - nicht ohne Reiz, trägt aber nicht wirklich über 17 Minuten. Ziemlich langatmig, ja sogar zäh, erscheint „Laterna Magica“ für Orchester. Das Konzept eines permanenten Ausdrucks-, Tempo- und Taktwechsels ermüdet, wenn prägnante Formen und Strukturen fehlen.
Bei „Orion“ für großes Orchester half die Vielseitigkeit der Bezüge zum gleichnamige Sternbild. Klare Formung, kraftvolle Klangentfaltung und mythische Dimension vereinten sich hier zu einem packenden Ausklang. Noch packender allerdings wirkten auf Schloss Johannisberg die von Anssi Karttunen virtuos interpretierten „Sept Papillons“ für Violoncello solo - prägnante Miniaturen von sehr unterschiedlichem Charakter, die alle Nuancen modernen Cellospiels auskosten. Die im Titel angedeutete poetische Idee trägt durchweg. Selbst hinter schneller, heftiger Bewegung spürt der Hörer immer noch einen Hauch von Zartheit und Ruhe. Im Nachhinein wünscht man sich, Ilja Stephan hätte Kaija Sariaho auch danach gefragt, wie sie zu Robert Schumann und seinem Klavierzyklus „Papillons“ steht.