Inszeniert man Glucks „Orpheus und Eyridike“, so stellt sich insbesondere die Frage nach dem Schluss: nach der Wahl des lieto fine, welches den Mythos ad absurdum führt und als ein Zugeständnis an den Namenstag des Kaisers bei der Uraufführung (5. Oktober 1762) anzusehen ist, oder des tragischen Endes, mit dem aus dem ersten Akt wiederholten Trauerchor, wie Wieland Wagner dies erstmals 1952 in München praktiziert hat. Ricardo Muti und Dieter Dorn wählten für Salzburg die originale Wiener Fassung von 1762.
Im ästhetisch cleanen, leicht modifizierbaren Einheitsraum des Gesamtausstatters Jürgen Rose ermöglicht der Zirkelring einer Drehscheibe, dass Orpheus bei seiner Heimführung Euridices nicht vom Fleck kommen wird.
Bei der Ouvertüre ist das Orchester auf ein Niveau über die erste Zuschauerreihe hochgefahren. Aus dem Klangkörper spalten sich Gefährten des Orpheus mit ihren Lyren ab; sie werden Orpheus auf seiner Reise in die Unterwelt begleiten, denn Orpheus zerbricht seine Lyra, nachdem ihm Euridice per Versenkung in die Unterbühne entschwunden ist und er nur noch deren leeres, rotes Gewand in den Händen hält. In einer Mischung aus jüdischem und populistischem Totenkult beschwert der Chor der heutigen Trauergäste Euridices Gewand mit Steinen, roten Blumen, Bildern und Grablichtern. Auf einer Trapezfläche gleiten von der Hinterbühne fünf steinalte, griechische Götter herein, in ihrer Mitte der ewig junge, heutig gewandete Amore, mit seinem Angebot an Orpheus, Euridice aus dem Jenseits holen zu dürfen, aber nur, wenn er sich auf dem Weg nach oben nicht nach ihr umsehe.
Nach einer störenden, kurzen Lichtpause der ansonsten pausenlosen Aufführung, bestimmt das Spiegelmotiv aus Cocteaus „Orpheus“-Version vervielfacht das erste Bild des zweiten Aktes: Die Verdammten, zu denen Orpheus auf einer Leiter aus dem Schnürboden herabsteigt, kriechen wie Gewürm unter- und übereinander. Sie zerfetzen Euridices Kleid, – die aber erscheint im unversehrten roten Gewand im zentralen Spiegel. Orpheus trinkt Wasser – aber nicht aus dem Lethefluss des Vergessens, sondern offenbar einen ihn belebenden Quell, und so erschaut er das Elysium: in lichten Pastellfarben gewandete Selige laufen stumpfsinnig und zumeist vereinsamt, im Gleichschritt hintereinander her. Für Orpheus’ Heimweg mit seiner Gattin schließt sich wieder, wie zu Beginn der Oper, eine Rundwand mit Türen um die zentrale Drehscheibe.
Als Orpheus schließlich Eurydikes nörgelndem und drohenden Drängen nachgibt, stirbt sie erneut; wieder entschwindet sie in die Versenkung und wieder hält Orpheus ihr Kleid, das er nun als Strick zur eigenen Strangulation verwendet. Amore unterbricht seinen Selbstmordversuch und verspricht ihm erneut Euridice. In den nachfolgenden Tänzen werden allerlei Beziehungsstörungen, Ehe- und (auch homoerotische) Partnerschaftskrisen ausgeführt. Den stärksten Eindruck in Ramses Sigls Choreographie bildet dabei der Vorgang des Zerschlagens eines Blumenbuketts, – wie mehrfach in Inszenierungen von Konstanze Lauterbach zu erleben.
Orpheus ist mit einer Altistin besetzt, ohne dass damit der mythische Bogen zu Sappho geschlagen würde, in deren Kult Orpheus’ Haupt und Leier verehrt wurden; die gleich Orpheus gewandeten Gefährten legen ihre schwarzen Hosenanzüge ab und wandeln sich im Schlussakt zu Doubles der Euridice, welche nunmehr ein weißes (Hochzeits-?)Kleid trägt.
Der abschließende Rundgesang der drei Sängerdarsteller und des Chores (Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor) soll laut Dramaturg Hans-Joachim Ruckhäberle die „Feier der Absolutheit des individuellen Gefühls über den Absolutismus jeder Macht“ zum Ausdruck bringen. Doch das szenische Ergebnis ist so glatt, wie die gesamte, all zu chice Ästhetik des Abends, wodurch sich der vielfältig deutbare Mythos in der Version von Glucks Reformoper nur als eine Vorgabe für exzellentes Musizieren erweist.
Dies leisten die Wiener Philharmoniker auf hohem Niveau. Riccardo Muti zelebriert Glucks erste Fassung so pretiös, dass man Glucks für Paris geschaffene orchestrale Bereicherungen en nuce bereits mitzuhören vermeint, insbesondere bei Orfeos deskriptiver Arie „Che puro ciel“. Dem C-Dur des Verlustes („Che farò senza Euridice“) gewinnt Muti dunkle Schatten ab, fern eines hierbei auch denkbaren griechischen Tanzes, denn der wird – mit dramaturgisch betont negativem Beigeschmack – in der Schlussszene breit zum Tragen kommen. Besondere Höhepunkte sind im ersten Akt die ausgekosteten Einsätze des Echoorchesters, von Mitgliedern der Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker als ganz eigene Farbe zum Klingen gebracht, und der Einsatz des Chalumeaux (Ernst Schlader und Markus Springer). Die Solisten, im Spiel mehr formal als fesselnd, sind gesanglich erstklassig: Elisabeth Kulmanns dramatischer Alt, für Orpheus belcantistisch zurückgenommen, schmiegt sich an den runden, makellos intonierten Sopran von Genia Kühmeier als Euridice, und die quirlige, facettenreiche Christiane Karg setzt als Amore eigene Akzente.
Die hochwertige musikalische Interpretation, wie auch Roses und Dorns Ästhetik ohne Widerhaken, werden vom Salzburger Premierenpublikum einhellig goutiert und gefeiert.
Weitere Aufführungen: 3., 7., 13., 19. 21. und 24. August 2010.