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„La libertà chiama la libertà“ von Eugeniusz Knapik in Wroclaw. Foto: Marek Grotowski
„La libertà chiama la libertà“ von Eugeniusz Knapik in Wroclaw. Foto: Marek Grotowski
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Ruf der Freiheit: „La libertà chiama la libertà“ von Eugeniusz Knapik in Wroclaw

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Wo gibt es das heute noch, den Mut zur zeitgenössischen Oper? Hier und da ein echtes Bekenntnis, gewiss, häufiger sind aber Alibi-Produktionen, meist folgt der teuren und zumindest in den Medien präsenten Uraufführung auf der Bühne bekanntlich ein stillschweigendes Begräbnis dritter Klasse. Ins Repertoire, in den täglichen Spielbetrieb schaffen es neue Werke nur selten.

Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet in Polen an der Oper Wroclaw nun erneut ein gut zweiwöchiges Fest der Moderne abgehalten worden ist, das neben Gastspielen vor allem die mehr oder minder zeitgenössischen Perlen aus dem eigenen Spielplan gebündelt präsentiert hat. Bereits vor zwei Jahren wurde dieses Festival zeitgenössischen Musiktheaters ein erstes Mal ausgerichtet, auch in Zukunft soll es aller zwei Jahre stattfinden, verspricht Intendantin Ewa Michnik.

Bei genauerem Hinsehen war der aktuelle Jahrgang, der mehr als die erste Oktoberhälfte lang fast täglich mit insgesamt neun Werken der Neuzeit überraschend viel Publikum anzog, zwar eher von gemäßigter Moderne geprägt, doch an welchen Bühnen Europas wäre der Mut zu Künstlern wie Bohuslav Martinu, Karol Szymanowski oder Krzysztof Penderecki schon eine Selbstverständlichkeit?

Die Oper in der schlesischen Stadt an der Oder eröffnete ihr Festival – und damit zugleich die Jubiläumssaison „65 Jahre Polnische Oper in Wroclaw“ – in einer Koproduktion mit dem Staatstheater Prag und der polnischen Erstaufführung der „Legendy o Maryi“ („Die Marienlegende“) von Bohuslav Martinu. Es folgten Raritäten zumindest des jüngeren zeitgenössischen Musiktheaters. Von Altmeister Karol Szymanowski sollten die Opern „Hagith“ (zusammen mit dem Einakter „Esther“ des jungen polnischen Komponisten Tomasz Praszczalek) und „Król Roger“ („König Roger“) gezeigt werden; letztere musste wegen der Erkrankung eines Sängers abgesagt werden. Von Krzysztof Penderecki kam „Raj Utracony“ („Paradise Lost“) auf die Bühne, in Wroclaw ebenso ein Repertoirestück wie die erst im vergangenen Frühjahr zum 200. Geburtstag ihres Namensträgers inszenierte Oper „Chopin“ des italienischen Puccini-Zeitgenossen Giacomo Orefice. Die Polnische Nationaloper Warschau steuerte in einem Gastspiel die auf Edgar Allan Poe zurückgehende Oper „The Fall of the House of Usher“ („Der Untergang des Hauses Usher“) von Philip Glass bei. Mit „Matka“ („The Mother of Black-Winged Dreams“) wurde der zur Biennale 1996 in München uraufgeführte und erst im Mai in Wroclaw neu herausgekommene Einakter von Hanna Kulenty, einer inzwischen international beachteten Komponistin aus Polen, gezeigt.

Freiheit im Kopf und auf der Bühne

Das Abschlusswochenende nun bot mit „La libertà chiama la libertà“ („Freiheit ruft die Freiheit“) von Eugeniusz Knapik auch eine veritable szenische Uraufführung, die nunmehr ebenfalls Bestandteil des avancierten Spielplans bleiben wird.

Mit dieser Produktion, die der 33-jährige Michal Zadara inszeniert hat, ist Knapiks Trilogie „The Minds of Helena Troubleyn“ – nach „Das Glas im Kopf wird vom Glas“ (UA 1990 in Antwerpen) und „Silent Screams, Difficult Dreams“ (UA 1992 zur documenta IX in Kassel) – vollendet worden. Der 1951 geborene Komponist, ein bekennender Schüler von Henryk Górecki und Olivier Messiaen, greift mit diesem Sujet auf ein sehr persönlich gehaltenes Libretto des flämischen Choreografen, Malers, Ausstatters und Regisseurs Jan Fabre (Jg. 1958) zurück, der die Trilogie jetzt am liebsten komplett in Wroclaw herausgebracht hätte. Damit wären das Haus und die um ihren knappen Etat besorgte Intendantin freilich überfordert gewesen. Sie hat aber geplant, aller zwei Jahre einen Teil neu zu produzieren, um 2014 „The Minds of Helena Troubleyn“ vollständig im Repertoire sowie beim dann 4. Festival der zeitgenössischen Oper zu haben.

Dieser Zyklus umkreist die reichlich krude Gedankenwelt der Titelfigur. Der Name Troubleyn (= treu bleiben) spielt darauf an, dass sie vor allem sich selber treu bleibt. Ihrem Glauben, ihrem Aberglauben, ihrer Einbildung. Die Story soll auf eine tatsächliche Nachbarin Jan Fabres zurückgehen, von der er als junger Mensch fasziniert gewesen ist. Sie habe zumeist von ihrer nicht vorhandenen Tochter berichtet und gegen Ende ihres Lebens fast nur noch gesungen – um die Furcht vor der Einsamkeit, vor dem Tod zu übertönen?

Derlei Kopfsinn haben Fabre ins Libretto und Knapik in die Partitur gegossen. Die Stimmen, die Helena Troubleyn in ihrem von langem Blondhaar umflorten Kopf hört und aussendet, wurden zu Figuren, um die Traumwelt der visionären Frau auf die Bühne zu bringen. Neben der Titelfigur stehen da – als Wiedergänger dieser Trilogie – Il Ragazzo und Fressia. Letztere ein gezieltes Aufgreifen des italienischen Wortes freccia, zu deutsch Pfeil.

Der nun trifft mitten ins intellektuell abgehobene Herz. Und eine weise Eule schaut dabei zu. Friedenstaubengleich fliegt die durch Bildprojektionen und trägt in keiner Weise zur Erhellung des opernhaften Schauspiels bei. Unter der musikalischen Leitung von Jacek Kaspszyk erklang das 1996 in Warschau bereits konzertant uraufgeführte Opus zum Festival-Finale nun in Zadaras einigermaßen respektfreier Inszenierung und überzeugte das Publikum von der Annehmbarkeit der Moderne. Denn die Musik Knapiks ist kein Aufbruch in nie gehörte Klangkosmen, sondern ein wohl austariertes Verhalten zu Tradition und Wagemut. Er sei mit diesem Premiere zufrieden gewesen, gesteht der Komponist und räumt ein, dass sie ihm ureigene Erinnerungen an eine längst abgeschlossene Arbeit wachruft. Die habe immerhin zehn Jahre seines Schaffens in Anspruch genommen und sei ein wichtiger Abschnitt seines Lebens gewesen. Eingedenk der bekannten Schwierigkeiten um moderne Musiktheaterstoffe spüre er gegenüber Ewa Michnik, dieser „einzigartigen Persönlichkeit“, unendlich viel Dank. Für diese Trilogie, so Knapik, habe er eine Musik geschaffen, die Helena im Kampf mit ihren Emotionen beschreiben solle.

Sein nächstes Projekt, ein Werk zu Herman Melvilles Roman „Moby Dick“, werde in zwei Jahren an der Warschauer Oper mit deutlich metaphysischerem Charakter herauskommen. Seine Troubleyn-Figur dagegen scheint in einer einzigen Blauen Stunde zu hausen. Konsequent wurde das Werk in deutsch, englisch und italienisch gesungen (mit polnischen Übertiteln), um die Sphären des reflexhaften Geschehens, der Dokumentation und des abgehoben Gotthaften deutlich voneinander zu trennen. Auch musikalisch sind diese Ebenen voneinander unterscheidbar, wobei der Komponist nie je die Grenzen drahtseiliger Experimentierfreude überschreitet, aber die Musik doch in einem die jeweilige Sprache analysierenden Fluss eintauchen lässt.

Die Protagonisten in Wroclaw boten ziemlich alles auf, was für einen Premieren- und Uraufführungserfolg beizutragen vermochte. Mit Maria Boulgakova in der Titelpartie, Anna Gancarz als Fressia und Mariusz Godlewski als Il Ragazzo drei enorm präsente Gestalter, die sich den Einfällen des einstigen Armin-Petras-Assistenten Zadara offenbar bereitwillig fügten und musikalisch ohne Tadel den Ansprüchen ihrer Parts zu genügen vermochten.

Termine: 3.12.2010, 17.2.2011

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