Derevo ist ein russisches Wort und heißt Baum. Unter diesem Begriff verzweigt sich seit 1988 ein Tanztheater, das in Leningrad gegründet wurde und nunmehr in Dresden beheimatet ist. Zwischenzeitlich war es in Prag, Amsterdam und Florenz zugange, längst ist es in der ganzen Welt präsent. Hier wie dort erfindet sich das eigenwillige Ensemble unter Gründungschef Anton Adassinski immer wieder neu. Soeben kam im Festspielhaus Hellerau Derevos jüngstes Projekt heraus, „Mephisto Waltz“. Wer jetzt an Faust denkt, liegt völlig daneben.
Zum fünften Mal geht Derevo das Jahresende im Festspielhaus Hellerau in jener einst reformbewegten Gartenstadt vor den Toren von Dresden an. Nach der lautstark gefeierten Uraufführung von „Mephisto Waltz“ (15.12.) werden dort die bereits erprobten Produktionen „Harlekin“ (18./19.12.) und „La Divina Commedia“ (26.-28.12.2010) gezeigt. Wer wie auch immer geartete Erwartungen an diese russische Truppe hegt, sieht sich wie stets angenehm überrascht. Derevo ist nicht vorzuempfinden, schon gar nicht bei einem Titel, der mephistophelisch ein wenig nach Lermontow und Puschkin klingen mag. Mit Goethes „Faust“ hat das jedenfalls überhaupt nichts zu tun.
Adassinski ist nach eigenem Bekunden durch seine Mitwirkung im Faust-Film von Alexander Sokurow angeregt worden, sich und seine Truppe diesem Thema auszuliefern. Resultat ist eine gut einstündige Schlüsselbild-Poetik, die ins Russland von vor hundert Jahren führt. Absurdität und Avantgarde stehen da dicht nebeneinander. Bemerkenswert die Parallelitäten dieses Herangehens und von dessen Austragungsort. Denn Russlands Aufbruch in eine neue, selbstbestimmte Ära der Künste ist so jäh wie stalinistisch abgebrochen worden. Und Helleraus Reformbewegung mündete in einem nationalsozialistischen Kasernenhof, der 1945 von sowjetischen Truppen übernommen wurde. Diese Schizophrenie muss womöglich mitgedacht werden, wenn an diesem Ort ein Stück wie „Mephisto Waltz“ bewegt wird.
Anton Adassinsky schiebt sich mit vier Tänzerinnen seines Theaters in die magische Schwärze des Raums. Hell glänzen da erst einmal nur die Derevo-typischen Kahlköpfe, die bald als Straußen-Eier im Gelege glänzen, bald zusammengekauert im Bodendunkel verschwinden, um leuchtend nur je einen Fuß in lichte Höhe ragen zu lassen. Vogel Strauß, tatsächlich?
Beim Betrachten sollte man sich da nicht zu schnell festlegen wollen, denn Derevo macht stets ein Theater für die Sinne, für nahezu alle Sinne, wirkt assoziativ und spielt mit höchster Disziplin. Die Grenzen zwischen eiserner Strenge und loser Improvisation sind fließend und können vehement täuschen. Wenn das Tänzerinnen-Quartett um seinen Chef scharwenzelt, einen Teufel in schwarzer Soutane, dann ist das so entlarvend wie blasphemisch, lässt nicht nur an orthodoxes Priestertum denken, sondern an indoktrinäre Verlogenheit aller Couleur. Hier wird das stimmungs- und wirkungsvoll gepaart mit Bildern aus dem alten Russland, fehlt nur das Große Tor von Kiew oder Godunows Gottesnarr. Die Hühnchensprache immerhin wird persifliert, strohige Nester werden gebaut, darin sind mal kleine, mal kopfgroße Eier. Österlich heidnisch und teuflisch verlockend. Die Eruptionen des Einfallsreichtums gipfeln in Andeutungen von ärmlichem Holzsammler, huldvollem Priester und mit rotem Eimerchen bekrönten Schneemann, immer wieder starrt ein Vogelscheuch mit ausgebreiteten Armen, wird bekränzt und gefürchtet, erhält zuguterletzt einen schwarzen Schirm in die Hand gedrückt. Bilder von magischer Melancholie.
So manche getanzte Bewegtheit friert bedrohlich in einer Klangwolke ein, den Sound dazu schrieb und schuf Daniel Williams, dem ein arger Mix aus Wogen und Wabern gelang, durchsetzt von Stimmengewirr und Vogelzwitscher. Wo dreivierteltaktig ein Mephisto-Walzer mal angedeutet wird, erlahmt er sofort im Erahnen. So auch die Bildwelten von Derevo, kaum ist da mal etwas klar umrissen, umflort es auch schon, wird aus dem bramarbasierenden Pfaffen ein vom Erdboden nach oben gespiegelter Mensch mit schwarzen Engelsflügeln. Aus den Lautsprechern werden ein paar Klangtupfer georgelt, schon ist es an Assoziationen genug.
Es ist eine hintergründige Komik, die da von den Derevo-Mimen so gekonnt behauptet wie umgesetzt wird. Sie gemahnt wieder und wieder an die Ursprünge derartige Kunstformen. Lang bevor über Formalismus gestritten und gemeuchelt wurde, gab es derlei Experimente ja tatsächlich schon einmal.
Wie gut, dass Derevo dies aufgreift und mit modernen Mitteln fortführt, um eine Tradition zu bewahren, die von der Erneuerung lebt.